Alle Farben der Welt - Roman
Kirche wie eine Flutwelle.
»Wie viele sind das denn?«
»Ich glaube ungefähr tausend.«
»Und Einwohner?«
»Höchstens dreitausend«, sagte ich und fügte hinzu: »Die Hälfte von Geels Einwohnerschaft ist vollkommen verrückt ... Ganz Geel ist halb verrückt!«
»Was geht mich das an«, sagten Sie ärgerlich und beendeten das Gespräch.
Vielleicht hatten Sie da erst erkannt, wohin Sie geraten waren. Nach Geel, ins Dorf der Verrückten. Wie kam es, dass es Sie auf Ihrer ziellosen Pilgerfahrt ausgerechnet ins Dorf der ewigen Pilger verschlagen hatte?
»Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang heute Nachmittag?«
»Warum nicht? Ich wandere gern.«
So habe ich Ihnen die Legende von der heiligen Dymphna nie erzählt, von der irischen Jungfrau, die ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und von ihrem Vater, der über den Verlust seiner Frau wahnsinnig wurde und sie durch seine Tochter ersetzen wollte – ein von allen Gesetzen verbotener Inzest. Doch der Vater war der König, und alle gehorchten ihm, daher fand sich ein Priester, der bereit war, die Kirche zu schmücken und die Trauung zu vollziehen, gegen Dymphnas Willen. Das Mädchen floh mit ihrem Beichtvater, einem gutherzigen, klugen Geistlichen, quer durch Europa. Sie reisten durch Frankreich und gelangten schließlich nach Belgien, in ein kleines Dorf, das damals vielleicht noch nicht Geel hieß. Dort griff ihr Vater sie auf und befahl ihr erneut, ihn zu heiraten. Sie antwortete, lieber wolle sie sterben, und so tötete er sie. Doch sie hatte ihm vergeben, weil er den Verstand verloren hatte, die Liebe hatte ihn wahnsinnig gemacht, Liebe macht stets wahnsinnig, Monsieur van Gogh, Menschen, die das Leben gleichgültig lässt, werden nicht verrückt. So starb Dymphna, und ihr Leichnam verschwand. Später fand man sie bereits bestattet in einem weißen Sarg. Die Engel hatten sie zu Grabe getragen. So will es die Legende. Man brachte einen Verrückten, der um Heilung betete, zu dem Sarg. Er wurde tatsächlich geheilt, und so begann die ganze Geschichte.
An dem Ort, wo der Sarg stand, wurde eine Kapelle errichtet und später eine Kirche und ein kleines Mönchskloster, und seit dem Mittelalter, seit fast eintausend Jahren, pilgern Verrückte dorthin und beten um ein Wunder. Dymphna war die Schutzpatronin der Verrückten, sie war ihnen zugetan und heilte sie. Aus ganz Europa brachte man sie zu ihr, damit sie ihren verlorenen Verstand zurückbekamen. Sie beteten: Du, die du weißt, was Wahnsinn ist, nimm fort ihn, wenn du mir gnädig bist . Es kamen so viele, dass es im Pfarrhaus zu eng wurde, um sie alle zu beherbergen, und so betteten die Klosterbrüder sie zum Schlafen auf den Boden der Kirche. Doch bald reichte auch die Kirche nicht mehr aus, und so baten die Klosterbrüder die Familien im Dorf, den einen oder anderen aufzunehmen. Alle gewöhnten sich schnell daran, einen Verrückten im Haus zu haben. Denn die Verrückten kamen und blieben, natürlich weil es ihnen gut ging, besser als in der Anstalt, doch vor allem, weil einige von ihnen tatsächlich geheilt wurden. Die anderen gingen zeit ihres Lebens in die Kirche, jeden Freitag, sie umkreisten dreimal den Altar, doch ihr Verstand kehrte nicht wieder. So hat seit vielen Jahrhunderten jede Familie in Geel ihren Verrückten. Auch als die Krankenstationen kamen und die Ärzte, Doktor Shepper, die königlichen Erlasse und die Gerichtsurteile, die Gutachten und die staatlichen Zuschüsse, änderte sich eigentlich nichts, niemand dachte auch nur einen Moment daran, sich die Verrückten vom Hals zu schaffen und sie wegzuschließen. Nur in Geel behandelt man die Verrückten so, nur in Geel sind die Verrückten frei. Überall sonst auf der Welt werden sie am Bett festgebunden, in Eiswasser getaucht, ruhiggestellt und rasiert. Sie dürfen sich ihre Kleidung nicht selbst aussuchen, sondern tragen alle den gleichen weißen Kittel. Nicht einmal ein Schmuckstück, einen Rock oder ein Foto dürfen sie behalten.
In Geel ist das nicht so.
Dort wird es niemals so sein.
In Geel hat jede Familie ihren Verrückten und gewinnt ihn mit der Zeit lieb. Das ist für alle etwas Natürliches und Wunderbares. Manche arbeiten auf dem Feld, manche malen, manche arbeiten im Garten, und manche tun nichts, manche sind gefährlich, sie werden als unschuldig bezeichnet, und manche kommen wieder zu Verstand, einige wenige bringen sich um, wie Frank, und noch weniger von ihnen bekommen ein Kind, wie die alte
Weitere Kostenlose Bücher