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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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hatte. Ich suchte auf dem Stuhl, in den Schubkästen, auf dem Boden. Nichts.
    Ich hatte fast schon den Mut verloren, als ich das Kissen aufschüttelte und dabei auf dem Laken zerrissene und zusammengeknüllte Seiten entdeckte, Seiten, auf denen Sie geschlafen hatten. Im Handumdrehen setzte ich sie zusammen, ständig in der Angst, jemand könnte hereinkommen.
    Ich überflog sie in aller Eile. Ich konnte sie ja nicht mitnehmen.
    In Ihrem Brief stand ungefähr Folgendes:
    Lieber Theo,
    mit einigem Widerstreben schreibe ich Dir, denn ich habe es so lange nicht getan, und zwar aus mancherlei Gründen. Bis zu einem gewissen Grade bist Du mir ein Fremder geworden, und auch ich bin es Dir vielleicht mehr, als Du denkst. Wie geht es mit der Galerie? Wie geht es Pa? Hält er immer noch seine langweiligen Predigten? Und Ma? Ich will Dir ein wenig von mir schreiben.
    Vor einiger Zeit war ich in Cuesmes, in Südbelgien. Es war Nacht. Ich konnte nicht schlafen, also verließ ich mein Strohlager. Es waren noch einige Stunden bis Sonnenaufgang, doch ich war nicht mehr müde. Du weißt ja, dass ich nachts oft wach bin. Da wollte ich einen Spaziergang machen, zog mir die Schuhe an und brach auf. Zunächst ging ich um die Große Kirche herum, dann um die Neue Kirche und dann am Deich entlang, wo alle die Mühlen stehen. Stell Dir vor, Du wanderst schon morgens um fünf Uhr durch den Weizen! Ich war nicht müde und setzte deshalb meine Wanderung auch nach Tagesanbruch fort. Nach Petit Cuesmes, Mons und noch weiter. Eigentlich habe ich noch immer nicht aufgehört, bin ich noch immer unterwegs! Ich frage mich, was wohl Monsieur Zandmennik dazu sagen mag, der mir eine Unterkunft gegeben hat. Doch da er weiß, dass ich so bin, exzentrisch und unbequem, wird mein Verhalten ihn nicht wundern, so wie er sich auch nicht wunderte, als ich meine Matratze verkaufte, um auf dem Boden zu schlafen wie die Grubenarbeiter, um so zu sein wie sie. Er wird froh sein, dass er mich los ist!
    Es ist schön, stundenlang zu wandern. Man hat das Gefühl, dass es nichts gibt außer dieser unendlichen Erde – diesem Schimmelbelag, als der der Weizen und die Heide erscheinen – und diesem unendlichen Himmel. Die Pferde und die Menschen sind ameisenklein. Es gibt nur die Erde und den Himmel. Man nimmt so gut wie nichts anderes wahr. Ich glaube, mein lieber Bruder, es gibt Momente im Leben, in denen wir der Natur gegenüber taub sind, oder in denen die Natur nicht mehr zu uns zu sprechen scheint. Doch es gibt auch Momente, in denen wir uns mit ihr verstehen, dann kommt es uns so vor, als hätte sie gerade uns etwas zu sagen. So erging es mir in den letzten Tagen. Ich werde nachher versuchen, Dir mit einer Skizze einen Eindruck zu vermitteln.
    Ich habe die Landschaft von Courrières gesehen, die braune Erde, den beinah kaffeebraunen Mergelboden. Der Himmel war zuweilen klar, zuweilen verräuchert und neblig. Ich wanderte ohne Pause, denn Dörfer sind dort selten und liegen weit auseinander. Obwohl diese Etappe mich bis zum Äußersten angestrengt hat und ich vor Müdigkeit völlig erschöpft, mit wunden Füßen und in einem mehr oder weniger trübseligen Zustand war, bedaure ich nichts, denn ich habe interessante Dinge gesehen. Unterwegs habe ich hie und da ein paar Stücke Brot erworben, im Tausch gegen meine Zeichnungen, die ich in meiner Reisetasche hatte. Sie gefallen zwar niemandem, doch es gibt noch mildtätige Menschen.
    Als ich mit meinen zehn Francs am Ende war, musste ich die letzten Nächte im Freien schlafen, einmal in einem verlassenen Wagen, der am Morgen ganz weiß von Reif war, ein andermal in einem Reisighaufen, und einmal – das war ein bisschen besser – in einem Heuschober, wo ich mir ein Lager bereiten konnte, aber ein feiner Regen trug nicht gerade zum Wohlbefinden bei.
    Jetzt bin ich zum Glück auf gastfreundliche Leute gestoßen. Ich weiß, was Du denkst, Theo. Seit fast fünf Jahren, vielleicht sogar mehr, habe ich nun kein Zuhause mehr, ich bin ein Vagabund. Es ist wahr, dass ich mir manchmal mein Stückchen Brot selbst verdient habe, und dass ein andermal irgendein Freund mir welches gegeben hat, und ich habe mich durchgeschlagen, wie es eben ging, schlecht und recht. Es ist wahr, dass manche kein Vertrauen mehr zu mir haben, es ist wahr, dass meine Geldangelegenheiten in einem traurigen Zustand sind, und es ist wahr, dass meine Zukunft nicht wenig düster ist ... Aber ist das gleichbedeutend mit Nichtstun? Sich gehen lassen und weiter

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