Alle Farben der Welt - Roman
nichts? Meinst Du denn, dass ich nicht auch ein Nest bauen und eine Frau haben möchte, ich, der ich nie eine hatte? Dass ich nicht manchmal an Ursula denke und an Kee? Weißt Du, oft bin ich grässlich und auf ärgerliche Art melancholisch, reizbar, sehne mich nach Mitgefühl wie ein Verdurstender nach Wasser, und wenn ich dieses Mitgefühl nicht finde, gebe ich mich gleichgültig und scharf. Die Unsicherheit meiner Situation ist mir klar. Doch es gibt Nichtstuer und Nichtstuer, von denen der eine das Gegenteil des anderen ist. Es gibt den Nichtstuer aus Faulheit und Charakterschwäche, aus niedriger Veranlagung – Du kannst, wenn Du meinst, mich für so einen halten. Dann gibt es aber auch noch den anderen Nichtstuer, den Nichtstuer wider Willen, der innerlich von einem heftigen Wunsch nach Tätigkeit verzehrt wird, der nichts tut, weil er nichts tun kann, weil er wie in einem Gefängnis sitzt, weil er nicht hat, was er braucht, um produktiv zu sein, weil es sein Missgeschick so gefügt hat, dass es mit ihm so weit gekommen ist. Nun, ich bin einer von diesen. Wie sehr wünsche ich mir, dass dies für mich eine Art Mauser sei, die Zeit, in der die Vögel ihr Gefieder wechseln, eine Zeit des Missgeschicks und des Unglücks für uns Menschen. Man kann in dieser Mauserzeit verharren, doch man kann auch wie neugeboren daraus hervorgehen. Jedenfalls verbringt man diese Zeit nicht in der Öffentlichkeit, es ist durchaus kein Spaß, da ist kein Glück, und deshalb tut man besser daran zu verschwinden. Deshalb bin ich verschwunden.
Vielleicht erinnern Sie sich nicht einmal mehr an diese Worte, Ihre Worte. Ich schon. Ich kenne sie auswendig. Sie waren für Ihren Bruder bestimmt, doch sie blieben bei mir. Sie wurden meine.
Mir war, als sprächen Sie zu mir, auf jeden Fall jedoch: von mir.
Doch hinter den Wörtern war noch etwas anderes.
Sie, Monsieur van Gogh, waren etwas anderes.
Eine große Eiche, tiefschwarz, mit dickem Stamm und dichtem Astwerk, mit dem Bleistift vor- und nachgezeichnet, ohne Laub, und dahinter ein schiefes Haus, mit geschlossener Tür, hinter die kahlen Zweige gesetzt, das etwas rundliche Dach himmelwärts gebogen wie die Spitze eines Holzschuhs. Dann ein Kieselweg, ein schmaler Pfad, der zu einem Hügel führt, sich dann jedoch verliert. Und eine Gestalt, undeutlich, gebeugt, blaugrau, von hinten gesehen, in Männerkleidern, den Hut auf die Ohren gedrückt. Ein Wanderer, man sieht, dass er langsam geht. Ich weiß genau, dass er es nicht eilig hat. Vielleicht liegt es an der kaum angedeuteten Bewegung des Beins, es ist ein kurzer Schritt.
Waren Sie das?
Ich meine nicht nur den Wanderer, sondern auch die kahle Eiche, auch das verlassene Haus, auch den Weg ohne Ziel.
Ich staunte.
Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen, solche groben, ungenauen Striche. Sie waren schlecht ausgeführt. Doch ich spürte, dass sie mich etwas angingen, dass sie mit mir zu tun hatten. So ein Gefühl hatte ich sonst nur, wenn ich den Sonnenaufgang betrachtete oder dem Regen zuhörte, wenn ich einen Schmetterling auf dem Finger hielt oder sah, wie ein Kälbchen geboren wurde. Sie waren ungeschlacht, diese Zeichnungen, sie waren hässlich , doch die Dinge darauf waren so, wie sie wirklich sind. Im Grunde ist es stets die Hässlichkeit, durch die die Welt gerettet wird, und genau das kann man in Geel lernen.
Da erkannte ich Sie, Monsieur van Gogh.
Doch ich erkannte auch, dass Ihnen noch etwas fehlte, um Maler zu werden.
»Wollen Sie die Geschichte von Geel denn nicht hören?«
»Nein, Teresa, die interessiert mich nicht«, antworteten Sie.
Den ganzen Morgen hatte ich darüber nachgedacht, welche Frage ich Ihnen stellen könnte, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen, und wie ich sie Ihnen stellen sollte, damit Sie nicht merkten, dass ich sie mir zurechtgelegt hatte. Ich hatte Parfüm aufgetragen und versucht, mich mit dem wenigen, das mir zur Verfügung stand, schön zu machen, hatte sogar Puder von einem Dienstmädchen gestohlen. Das alles nur, um Sie zu beeindrucken. Ich hatte ein blaues Kleid mit einem großen, weißen Spitzenkragen angezogen. Hatte meine Holzschuhe geputzt und meine Haube ein Dutzend Mal zurechtgerückt. Ich fühlte mich hässlich.
Es war fast Mittag. Die Sonne glühte dunkelorange. Wir saßen auf zwei Korbstühlen am Straßenrand und betrachteten die Passanten, die Verrückten, die zur Novene gingen, jeder von seinem Betreuer unterstützt. Die vielen Menschen machten Ihnen Angst. Sie strömten zur
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