Alle Farben der Welt - Roman
Linien vor, die auf der Leinwand heranwuchsen wie eine unaufhaltsame Pflanze, und ich sah den Mais vor uns, Icarus’ Haus in der Ferne und den strahlend blauen Himmel. Ich hörte den Gesang der Bauern auf den Feldern und das Muhen der Kühe. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, wie Sie all das gezeichnet hatten.
»Einen Stift zur Hand zu nehmen war für mich immer schon eine Möglichkeit, zu zeigen, wie ich die Dinge sehe. Nicht alles lässt sich in Worte fassen, manches muss man zeigen.«
»Monsieur Zoek bringt den Kranken und Versehrten, die nicht aus dem Haus und manchmal nicht einmal bis ans Fenster kommen, häufig Bilder mit. Auf diese Weise zeigt er ihnen die Welt und versichert ihnen, dass sie auch außerhalb ihres Zimmers noch da ist.«
Sie arbeiteten wie besessen, dann drehten Sie das Bild herum und zeigten mir, was darauf zu sehen war. Es waren weiche, breite Linien. Die gleichen wie auf den Skizzen in Ihren Briefen. Das war Ihre Art zu zeichnen: Sie ließen die Details entweder weg oder vergrößerten sie über die Maßen. Nur Dinge, die Sie sehr beeindrucken, verdienen es, auf der Leinwand zu erscheinen. Tatsächlich war auf dieser Zeichnung alles vorhanden, doch eben nach Ihrer Art. Mit nur wenigen Linien waren die Felder angedeutet, nur ein Strich genügte für zehn Ähren, und doch waren die zehn Ähren da, man konnte sie sehen, konnte die Körner zählen. Auch eine kleine Viehherde war zu erkennen und zwei gebückte Tagelöhner am Horizont. Und ein Haus, kleiner als das von Icarus und dem kaum ähnlich, doch genau so haben Sie es gesehen, als ein Haus wie viele andere. Und da waren Pappeln und Klee, ganz in unserer Nähe, und übergroße Blumen, die den Frühling sehr gut wiedergaben. Sie haben recht, Anfang März sind die Blütenblätter gigantisch.
Und dann war da ich.
Vom Betrachter abgewandt, schaute ich in die Landschaft. Ich war nur eine Haube, ein Kleid und dicht vor die Brust gezogene Holzschuhe. Ich hatte kein Gesicht. Doch einen kleinen Busen. Einen Frauenbusen, wie ich ihn gar nicht hatte. Doch für Sie war ich kein kleines Mädchen mehr.
Wahrscheinlich wurde ich rot.
»Wie findest du es?«
»Ich finde, dass die Farben fehlen, Monsieur.«
Verlegen hielt ich mir die Hand vor den Mund. Ich fürchtete, meine spontane Reaktion könnte unverschämt geklungen haben, oder Sie könnten entdecken, wie viel mir an Ihnen lag. Sie wurden nachdenklich, sagten kein Wort und schauten nach vorn: Das Bild war ein schwarz-weißer Fleck mitten im jubilierenden Kempenland. Ohne Farben war die Welt draußen geblieben, außerhalb des Bildes.
Ich hatte Ihnen etwas völlig Simples gesagt, doch erst da wurde es Ihnen bewusst. Dass die Bäume grün und braun sind, die Mäuse rötlich grau, die Sterne gelb oder silbern, je nachdem, wie die Nacht ist; dass die Statuen weiß sind, solange sie nicht verwittern, und wieder weiß werden, wenn man sie säubert; dass die Flüsse schwarz sind, wenn sie rasch fließen, und dass manche Tage und manche Menschen mehr leuchten als andere; dass es rote Blätter und dunkle Blüten gibt und dass der Tod gelbgrün ist, denn alles hat seine Farbe. So existiert die Welt, Monsieur van Gogh, das ist ihre Sprache. An der Farbe erkennt man, ob Früchte reif sind, ob ein Mund gesund ist, ob eine Drossel männlich oder weiblich ist, ob ein Insekt gefährlich und ein Pilz essbar ist, ob der Tag vorbei ist und das Wasser trinkbar. Ob man glücklich oder traurig ist.
Sie drehten sich um und suchten, mit dem Stift noch in der Hand, nach dem Bild. Sie hatten es ins Gras gelegt und mussten eine Weile nach ihm suchen. Es amüsierte mich, Sie so unbeholfen zu sehen. Sie hoben es auf, feuchteten mit etwas Speichel den Pinsel an und tauchten ihn in die Farben.
»Wenn ich gewusst hätte, dass das ein Gemälde werden soll, hätte ich mit dem Stift nicht so stark aufgedrückt.«
»Beklagen Sie sich eigentlich immer so viel?«
»Ich habe einen unangenehmen Charakter.«
»Wenn Sie mich fragen, werden Sie ein Leben als Maler führen«, sagte ich.
Jawohl, dieser Drang erfüllte Sie bis ins Mark , ohne dass es Ihnen bewusst war. Ich zeigte Ihnen nur die Richtung, in die Sie gehen mussten, um in Ihre Heimat zu gelangen. Um endlich ins Land der Farben zu gelangen.
Sie hatten begonnen.
Hatten aus Blau und Rot etwas Veilchenblau gemischt, und aus Blau und Gelb etwas Grün. Dann die Nuancen: Korallenrot, Purpurrot, Bernsteinbraun, Pflaumenblau, Blauviolett. Schon bald legten Sie den Pinsel weg
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