Alle Farben der Welt - Roman
endlosen, leuchtenden Himmel, der weder weiß noch fliederblau war.
»Es ist erstaunlich, wie viele Farben es hier gibt«, antwortete ich, aufgewühlt von dem gemeinsamen Erlebnis. »Im Grunde gibt es keine zwei Dinge, die wirklich dieselbe Farbe haben.«
Sie hörten mir gar nicht zu. Sie waren mit Ihren Gedanken anderswo. Bei Ihrem Leben. Irgendwann sagten Sie: »Weißt du, wie man mich als Kind genannt hat? Fou roux! Der rothaarige Verrückte! Schon damals hatte ich einen schwierigen Charakter.«
»Von mir hat man erzählt, ich könnte die Zukunft vorhersehen.«
»Wirklich?«
»Ja. Weil ich einmal viele Menschen vor einer Grubenexplosion bewahrt habe.«
Doch auch diesmal baten Sie mich nicht, Ihnen mehr davon zu erzählen. Ein Gespräch mit Ihnen war nicht so einfach. Das Reden schien Sie anzustrengen, doch vor allem konnten Sie nicht zuhören.
Bald ging die Sonne unter. Und obwohl es an der Zeit war, nach Hause zu gehen, verlangsamten wir unsere Schritte, um das Schauspiel zu genießen.
»Welche Ruhe, welcher Frieden«, sagten Sie und atmeten tief ein. »Diese schmale Allee, der Schlamm, die endlose Heide zu beiden Seiten, die dreieckigen Hütten, die rötlichen Flammen eines Feuers hinter ihren Fenstern ...«
Sie sahen zufrieden aus, die Dunkelheit schien Sie zu beruhigen. »Sieht das nicht aus wie kleine Punkte auf einer Landkarte, Teresa?«, fragten Sie und wiesen zum Himmel hinauf, der so klar war, dass schon unzählige Sterne zu sehen waren.
»Da haben Sie recht.«
»Auch wenn es nicht Frankreich ist.«
»Frankreich muss schön sein.«
»Paris ist schön und grausam. Doch ich möchte in den Süden.«
»Sie könnten mit einer Frau dorthin gehen«, sagte ich in der Hoffnung auf eine Reaktion.
»Vielleicht ist jeder Stern ein Dorf. Weshalb sollte es schwieriger sein, zu den Lichtern des Firmaments zu gelangen als zu den Städten Frankreichs?«
»Wie poetisch«, sagte ich mit einem Anflug von Sarkasmus und Gereiztheit.
»Beim Anblick der Sterne gerate ich ins Träumen.«
Während Sie in diesem ernsten, feierlichen Ton redeten, geschah etwas Schönes. Auf dem Weg lag ein großer Stein. Sie waren so vertieft in die Betrachtung des Himmels, dass sie ihn übersahen und stolperten, fast wären Sie gefallen. Während Sie noch Ihr Gleichgewicht suchten, brachen Sie in schallendes Gelächter aus, es war ein gesundes, kräftiges Lachen. Ihre Stimmung hellte sich auf. Für einen kurzen Augenblick verschwand Ihre grüblerische, gedankenversunkene Miene. Es war das einzige Mal, dass ich Sie wirklich glücklich sah.
»Jetzt müssen wir uns trennen, Monsieur van Gogh. Man darf uns nicht zusammen sehen. Hier denkt man sofort Schlechtes.«
In derselben Nacht erschien mir meine Mutter im Traum. Sie war ganz in Weiß gekleidet und hatte weder Augen noch Beine. Sie war dünn und sprach kein Wort. Ich fürchtete mich vor ihr. Seit dem letzten Mal, da sie mir erschienen war, schien sie älter geworden zu sein. Und bleich. Ich wäre gern aufgewacht, doch es gelang mir nicht. Meine Mutter hielt mich in diesem Traum, und hinter ihr stiegen Farben auf, zunächst Gelb, dann Rot, Dunkelblau, Orange, Grün und Himmelblau, eine Farbe nach der anderen, eine in der anderen, und ich tauchte hinein, schwamm darin umher, verschob sie mit den Händen, verschlang sie. Die Farben wurden zu Formen, zu sonderbaren Gebilden, es gab schwarze Birnen und blaue Schlösser, rote Pferde und gelbe Artischocken. Da dachte ich, dass ich diesen Traum nicht brauchte, dass meine Mutter mich unterschätzte, denn ich hatte Sie ja längst erkannt, Monsieur van Gogh, ganz und gar. Ich hatte nur Ihren Brief lesen müssen, um bereits alles zu wissen.
Monsieur Zoeks Laden.
Meine Erinnerungen sind nun klarer. Einfacher. Noch immer habe ich den sonderbaren Geruch dieses Ladens in der Nase, nach Tabak und Zimt. Er lag am Ende des Dorfes und führte nur wenige Dinge, alle einzig danach ausgesucht, ob sie Monsieur Zoek gefielen. Es gab Gewürze, eine Kiste Äpfel, Schokolade, Streichhölzer und braune Zigarrenschachteln, ein Stück Speck, in dem ein großes Messer steckte, ein Bündel veilchenblauer Duftkerzen, drei Teppiche und außerdem Farbpaletten, Leinwände, Bleiweiß, Firnis und Näpfe mit Malfarben. Hinter dem Laden beschlug Monsieur Zoek die Pferde und gab den Verrückten Malunterricht.
Er ging sehr grob mit ihnen um, und um ein Haar hätte ihm einer seiner Schüler einmal die Kehle durchgeschnitten. Er behielt eine lange Narbe am Hals
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