Alle Farben der Welt - Roman
Feld getan hatten. Es kam mir gar nicht in den Sinn, ich war viel zu besorgt um Ihre Gesundheit. Ich vergaß auch die Palette, die Monsieur Zoek mir geliehen hatte.
Doch jetzt fällt mir das Bild wieder ein, und ich frage mich, was wohl mit ihm geschehen ist. Vielleicht hat ein Bauer es gefunden und in seinem Haus aufgehängt. Vielleicht hat ein Fuchs versucht, es zu fressen. Vielleicht hat ein Hund daran geschnüffelt und ist dann darüber hinweggelaufen. Mir gefällt der Gedanke, es könnte dort geblieben sein und niemand hätte es weggenommen, es wäre im Laufe der Jahre langsam verwittert und hätte der Erde ihre Farben zurückgegeben.
Denn sie ist es, die braune Erde, die alle Farben der Welt hervorbringt. Ist das nicht fantastisch? Der Himmel erzeugt weit weniger Farben. Schon als kleines Mädchen staunte ich über dieses Wunder.
Nun werden die Erinnerungen sehr schmerzlich, Monsieur van Gogh. Sie tun weh. Sie fließen aus den Augen, sind nass und schmecken nach Salz. Schmecken nach Wut. Trotzdem, man muss sich an alles erinnern, nicht wahr? Das ist der Preis. Man kann sich nicht aussuchen, woran man sich erinnert und woran nicht.
Wir waren die große, farbige Fröhlichkeit mitten im Kempenland, und wir waren der Schmerz, der große Schmerz, der uns nicht mehr loslassen sollte.
»Erzähl mir, was passiert ist, Teresa.«
Doktor Shepper schüttelte das Thermometer, verstaute es in der großen, schwarzen Tasche und wischte sich über die Stirn.
Ich erzählte ihm alles haarklein. Darüber zu sprechen fiel mir schwer, doch ich tat es für Sie. Ich beschrieb Ihre zitternde Hand und das Bein, das plötzliche Zucken des Gesichts und die heraustretende Zunge. Ich ließ kein Detail aus. Der Doktor unterbrach mich mehrmals und fragte nach. Nein, es hatte keinerlei Anzeichen gegeben. Nein, Sie wirkten nicht erschöpfter als sonst. Nein, Sie waren nicht unfähig, zu sprechen, wenngleich Ihnen die Wörter nur sehr langsam über die Lippen kamen.
»Sei ehrlich, ist sonst wirklich nichts vorgefallen?«, fragte Doktor Shepper.
»Nein!«, antwortete ich vehement. »Wahrscheinlich war Monsieur van Gogh sehr ruhebedürftig. Bevor er nach Geel kam, ist er extrem lange gewandert.« Das sagte ich, weil Doktor Shepper Ihnen nur ein wenig Ruhe verordnete. Ich wollte sichergehen, dass Sie noch einige Tage länger blieben.
»Diese plötzlichen Anfälle sind kein gutes Zeichen«, sagte er.
»Wie geht es ihm jetzt?«, flüsterte Madame Vanheim.
»Er ist sehr müde und aufgewühlt, doch in einigen Tagen wird er sich erholt haben. Von diesem Anfall, meine ich.« Doktor Shepper machte eine Pause. »Madame Vanheim, ist Ihnen nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«
»Nichts, nein. Abgesehen davon, dass er an dem Tag hier ankam, als das Fest stattfand ...«
»Es könnte ihm guttun, noch ein Weilchen in Geel zu bleiben«, fuhr der Doktor fort.
»Was meinen Sie damit?«, schaltete ich mich ein. Mein Herz stand in Flammen, Monsieur van Gogh. Ich hatte Angst und fühlte mich schuldig.
»Madame Vanheim, haben Sie bemerkt, ob unser Vincent unter Stimmungsschwankungen leidet, ob er einen starken Heißhunger entwickelt und ob seine Augen gerötet sind?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Madame Vanheim.
»Ja, natürlich ... Wie könnten Sie auch, Sie haben ihn ja nur wenige Minuten gesehen ... Und du, Teresa?«
»Ich? Auf jeden Fall ist er ein sonderbarer Kauz.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn Sie mich nach Monsieur Vincents Verhalten fragen ... nun ja, er ist nicht so wie alle anderen.«
»Also wird es besser sein, ihn weiter zu beobachten.«
»Was befürchten Sie denn?«, erkundigte sich Madame Vanheim, die sich mehr darum sorgte, dass Sie zu lange in ihrem Haus bleiben könnten, als um Ihre Gesundheit. »Übermorgen soll die Kutsche eintreffen. Dann wird der neue Verrückte kommen und mit ihm auch Doktor Tarascon.«
»Monsieur van Goghs Anfall könnte der Vorbote einer schweren Geisteskrankheit sein. Ein Aufenthalt hier in Geel wird ihm gewiss nicht schaden. Die gute Luft, die Leute, die daran gewöhnt sind, mit ... heiklen Situationen zurechtzukommen. Sollte sich der Anfall wiederholen, kann eine Unterbringung in einer Anstalt nicht ausgeschlossen werden ... Und Sie wissen ja, wie das in solchen Fällen endet!«
»Wir können ihn doch noch eine Weile hierbehalten, nicht wahr?«, fragte ich Madame Vanheim und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
Ich bin mir sicher, Sie haben alles mit angehört,
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