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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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und nahmen mit dem Finger etwas Grün auf, das Sie als dicken Klecks auf die Leinwand setzten, als regelrechten Farbklumpen. »Es ist mir egal, ob die Farbe genau die ist, die ich sehe«, sagten Sie leise. »Hauptsache, sie ist auf dem Bild so schön wie in der Natur.«
    Doch auf dieser Leinwand waren Sie, und nicht nur die Welt, die uns umgab. In diesen Farben wohnte Vincent van Gogh. Als Sie ein Orange auswählten, war es die Haarfarbe Ihres Bruders, und das Grün war ein Käfer, den Sie verfolgt und zwischen den Fingern gehalten hatten, blaugrün war der Blick Ihrer Mutter, grau das Gesicht eines Grubenarbeiters im Bergwerk, dunkelblau die Nacht, in der Sie aufgestanden und nach Geel gekommen waren, schwarz die Kirche, in der Ihr Vater predigte, weiß das Hemd Ihres Bruders am Tag, als er angestellt wurde, dunkelgrau die trübe Seine, kristallblau der Abend, an dem Sie sich zum ersten Mal verliebten, und gelb Ihre Öljacke.
    Dann sahen Sie, dass das nicht ausreichte, Sie waren erst an der Quelle eines Flusses, der noch zu Tal fließen und sich ergießen musste, eines Flusses aus Schlamm und Licht, denn die Farben wollten sich vereinen, wollten ineinander aufgehen, die Plätze tauschen, zusammenstoßen, sie wollten noch dicker werden, wollten aus der Leinwand heraus. Sie überwältigten Sie, überfluteten Sie, und da geschah es. »Aber was ...«, sagten Sie und begannen heftig zu zittern, und mir war, als erzitterte auch der Boden unter meinen Füßen. »Was ist los mit mir?« In Ihrem Blick lag Angst, tief empfundene Angst, so intensiv wie Ihr Schicksal. Ich schrie: »Vincent!« und hielt mir vor Schreck den Mund zu, und Sie sagten: »Teresa«, doch leise, stammelnd, benommen, entsetzt, denn dieses Zittern zerhackte Ihre Stimme, und die Wörter kamen nur mühsam hervor, sie rissen ab, blieben unvollständig. »Ich ... ich ... werde ... kann nicht ...« Es war ein erschütternder Anblick, Monsieur van Gogh. Zunächst zitterte Ihre rechte Hand, und Sie starrten sie an, wie um sie zu stoppen und als gehörte sie Ihnen nicht; der Pinsel landete im Mais, Ihre farbverschmierte Hand zitterte immer heftiger. »Ich kann nicht ...« Dann begann Ihr ganzer rechter Arm zu zucken. Ich wusste nicht, ob ich mich Ihnen nähern sollte, wusste nicht, was tun, und nun fing Ihr Bein an, ebenfalls das rechte, irgendetwas sprang hoch zu Ihrem Gesicht, wie der Biss eines Hundes an die Kehle. Sie rollten den Kopf, die Augen und brachen mit einem Keuchen zusammen. Ihre Zunge schob sich aus dem Mund. Sie lagen reglos da, doch die Zunge zuckte. Ich stürzte zu Ihnen, umarmte Sie und hielt Sie fest, ich spürte Ihren Körper an meinem.
    »Vincent!«, rief ich erneut.
    »Bring mich hier weg ... Was bin ich nur? Ich habe Angst, Teresa ...«
    Ich legte Ihren Arm um meine Schulter und dann meinen Arm um Ihre Taille, und so stolperten wir zu Icarus’ Haus, das am nächsten stand, ich wollte um eine Kalesche bitten. Einige Bauern kamen uns entgegen, und Icarus wird sich gefragt haben, was ich hier mitten in den Feldern mit Ihnen zu suchen hatte. Er sah mich schief an und argwöhnte wer weiß was, doch er sagte nichts. Als ich ihm erzählte, was geschehen war und dass Sie Hilfe brauchten, bot er uns seine Gastfreundschaft an. Aber da Ihr Zustand ernst war und wir Doktor Shepper brauchten, hielt ich es für Zeitverschwendung, ihn erst aus dem Dorf zu holen. Viel besser war es, ihn gleich in Geel zu konsultieren.

    Vielleicht haben Sie all das vergessen. Vielleicht war dieser Anfall zu heftig und hat jede andere Erinnerung überlagert.
    Doch ich wollte Ihnen sagen, dass ich das erste Bild gesehen habe, das Sie je malten. Damals dachte ich mir schon, dass es Ihnen nicht gut ging, dass Ihr Zustand besorgniserregend war, doch ich konnte nicht anders. Ich musste dieses Bild sehen.
    Offen gestanden war es, verglichen mit Ihren Zeichnungen, nicht gerade ein Meisterstück. Die Farben waren launisch hingeschmiert, wie zum Spaß. Es kam mir vor, als hätten sie Ihnen Angst eingejagt, als hätten Sie sich über die Farben lustig gemacht und als hätten diese sich im Gegenzug an Ihnen gerächt, als hätten sie Ihren Anfall ausgelöst, weil Sie sie respektlos und ohne Maß behandelt hatten. Farben sind eine Kraft, eine Macht.
    Für die Farben haben Sie Ihr Leben gegeben.
    Wer weiß, was aus jenem ersten Bild geworden ist.
    Ich ließ es dort zurück, es war zu sperrig. Ich bat auch niemanden, es zu holen, nicht einmal, um beweisen zu können, was wir auf dem

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