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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Gogh. Ich war mir sicher.
    Und auch diese Prophezeiung hat sich erfüllt.
    Am nächsten Morgen ließ Monsieur Vanheim mich wieder aus dem Zimmer. Er und seine Frau sprachen kein Wort und ich auch nicht. Die ersten Tage waren unerträglich. Ich weinte unablässig, während ich die Kühe molk, am Tisch saß, zur Kirche ging oder Ihre Zeilen noch einmal las.
    Ich weinte, weil ich nicht verstand.
    Ich wusste nicht, weshalb Sie weggegangen waren. Wusste nicht, wie es Ihnen ging. Waren Sie vor mir davongelaufen?
    Schon bald sollte ich alles begreifen, nur wenige Tage später. Die Tränen blieben, doch ich weinte nicht länger um Sie, ich weinte um mich.
    Das war, als Doktor Tarascon kam.
    Monsieur Vanheim hob während des Begrüßungsessens, zu dem er auch Doktor Shepper und den Vikar eingeladen hatte, seinen Bierkrug und stellte den Gast vor: »Mein französischer Freund ist ein in der Kunst der Medizin höchst bewanderter Professor, er lehrt an der Sorbonne. Als Spezialist für Geisteskrankheiten wendet er die neuesten Methoden zur Behandlung der Patienten an, wie etwa die fotografische Katalogisierung, eine Technik, die es ermöglicht, Gesichter abzubilden, verschiedene Mimiken und Körper zu vergleichen und die Neigungen und Perversionen eines jeden Menschen vorherzusehen. Ich habe ihn hierher eingeladen. Denn er wusste nicht einmal um die Existenz von Geel! Die Ergebnisse der hiesigen Forschungsarbeit werden in sämtlichen Zeitungen Frankreichs veröffentlicht. Stellen Sie sich vor, die Kirche der heiligen Dymphna, unser Haus und die Felder von Monsieur Broot werden in den Pariser Blättern erscheinen!«
    Tarascon tat so, als wäre er nicht geschmeichelt, und schaute sich forschend um. Auf mich wirkte er von Anfang an gefährlich. Er war pedantisch und vorsichtig, nichts entging seinem scharfen Blick. Den ließ er von mir zum Bücherregal und dann weiter zu Madame Vanheims Weinkrug wandern, doch so, als hätten Dinge und Menschen den gleichen Wert und weckten in ihm die gleiche Aufmerksamkeit, das gleiche rein wissenschaftliche Interesse.

    Ich erinnere mich.
    An einen Fotoapparat.
    Das also war das Gerät, das auf dem Kirchplatz aufgebaut worden war. Das ganze Dorf war dort versammelt, um sich dieses Wunderwerk aus Paris anzusehen. »Der Nächste, bitte!«, sagte Doktor Tarascon mit Stentorstimme. Er strich sich den Schnauzbart glatt und wischte sich den Staub von seiner zu weiten Jacke. Mit einem Stock in der Hand stand er da und klopfte jedes Mal auf den Boden, wenn der Nächste aufgerufen wurde, der fotografiert werden sollte. »Halois Weert bei Familie Zebark!«, sagte er, und Halois trat aus der Menge vor. Er war schon seit dem Morgen dort und hatte den anderen zugesehen, sodass es nicht nötig war, ihm Instruktionen zu erteilen. Er setzte sich auf den Schemel vor dem Fotoapparat.
    »Bitte halten Sie ungefähr dreißig Sekunden still.«
    »Was sind dreißig Sekunden?«
    »Das ist die Zeit, die Sie still sitzen und die Luft anhalten können.«
    Halois atmete ein.
    Nun erschien ein Männchen mit Hosenträgern, ging zu dem Verrückten, legte ihm die Hände auf die Schultern, rückte ihn zurecht, lief dann zum Fotoapparat, kroch unter eine Art schwarzen Vorhang, bewegte die Schnauze des Apparats, um das Motiv scharf zu stellen, und schoss das Bild.
    »Der Nächste, bitte.«
    Doktor Shepper schaute Tarascon zu, beeindruckt von der mechanischen und gebieterischen Art, mit der dieser seine Bewegungen wiederholte wie ein feierliches Ritual. Icarus und Monsieur Vanheim fachsimpelten über dieses Wunder der Technik. Vikar Torsten fürchtete, es könnte sich um Teufelszeug handeln. Und Monsieur Norrik erläuterte, man werde alle Verrückten des Dorfes fotografieren, damit Doktor Tarascon dann entscheiden könne, welche er persönlich aufsuchen werde und welche Fälle für ihn die wichtigsten seien. Monsieur Zoek meinte, falls dieses Dings da tatsächlich funktioniere, werde es bald keine Maler mehr geben, man werde niemanden mehr brauchen, der ein Bild malt. »Der Nächste, bitte«, fuhr Doktor Tarascon unbeirrbar fort. Die Dorfbewohner waren entzückt, doch offen gestanden mehr von Klatsch und Tratsch als von der Wissenschaft. Zum ersten Mal erfuhren sie nämlich zuverlässig die Namen aller Verrückten von Geel. Auch Petite Colbert wurde vor den Fotoapparat gerufen. Sie war rot geworden. »Ach, deshalb spielt sie so schlecht«, raunten einige.
    Währenddessen beschwerten sich viele, sie wollten mit ihren Familien

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