Alle Farben der Welt - Roman
Tag verlor ich es für immer.
Die Minuten bei Tisch schienen überhaupt nicht zu vergehen, ich bekam keinen Bissen hinunter. Mir kam diese Mahlzeit vollkommen sinnlos vor. Und ebenso sinnlos erschien es mir, dort bei den Vanheims sitzen zu bleiben, die mit dem Essen fertig waren, mir jedoch aus Höflichkeit weiter Gesellschaft leisteten. Ich fand es unerträglich, zu hören, wie sie Nüsse knabberten. Das Geräusch ihrer Münder widerte mich an. Nervös trommelte ich gegen mein Glas.
»Beliebt man heute Abend nicht zu speisen?«, erkundigte sich Monsieur Vanheim ironisch.
»Ich habe keinen Hunger, Monsieur. Heute war ein unvergesslicher Tag für mich.«
»Ich hoffe doch, nicht zu sehr, meine Kleine«, gab er scharf zurück. »Für meinen Geschmack sind deine Wangen viel zu rot.«
Da konnte ich nicht länger sitzen bleiben. Heftig stieß ich meinen Stuhl zurück. »Sie entschuldigen mich.«
»Wo willst du hin? Komm sofort zurück!«, rief Madame Vanheim, doch ich hörte nicht auf sie. »Teresa, ich habe gesagt, du sollst stehen bleiben!« Ich stürzte fort in den Salon und weiter zur Treppe, ich fühlte mich noch immer wie in dem Waschbottich, mit dem irrsinnigen Verlangen, Sie auszuziehen, selbst ausgezogen zu werden, unter Ihre Bettdecke zu schlüpfen, mich an Sie zu schmiegen und uns zu bestaunen, wir beide eng umschlungen und reglos, darauf wartend, dass Ihre Krankheit verging, damit wir uns dann umso heftiger umarmen konnten, ich wollte mich Ihnen hingeben und mit Ihnen das Feuer teilen, das ich in mir hatte. »Teresa, ich befehle es dir!« Nein, ich konnte das nicht mehr hören. Sollten sie uns doch sehen, sollten sie uns doch dabei ertappen, wie wir uns in den Armen lagen.
Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich die Hand auf die Türklinke legte und hinter mir Monsieur Vanheim hörte, der mir gefolgt war, mich in einem fort beschimpfte und mir drohte.
Ich riss die Tür auf.
Die Betttücher waren zerwühlt.
In der Luft lag ein starker Geruch nach Melisse.
Sie waren fort.
Gern würde ich Sie jetzt fragen, was an jenem Abend geschah. Wie kamen Sie unbemerkt aus dem Haus der Vanheims? Und wann? Während des Abendessens?
Wir saßen im Speisezimmer, und niemand achtete auf die Haustür. So kann es gewesen sein.
Wir suchten Sie überall.
Wir gingen vom Wirtshaus zu Monsieur Zoeks Laden, von Icarus zum Pfarrhaus. Wir fragten Monsieur Norrik und Petite Colbert, Aaron und Madame Russel. Sie konnten ja noch nicht weit sein.
Doch Sie hatten sich in Luft aufgelöst. In keinem Haus, keinem Stall und keiner Scheune des Dorfes fand sich eine Spur von Ihnen.
Später erzählte man sich, man habe am nächsten Tag auf Hester Prynnes Kleid ein paar rote Haare gefunden.
Haben Sie dort, unter diesen Röcken, den Verstand verloren? War sie Ihre erste Frau?
Sie, und nicht ich?
In Ihrem Zimmer lag nur ein Zettel.
Auf dem Tisch, in aller Eile hingeworfen.
Ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig packen und unter meiner Schürze verstecken, bevor Monsieur Vanheim mich einholte. Er umklammerte meinen Arm und bugsierte mich in mein Zimmer. »Hier bleibst du so lange, bis ich dich hole!« Er schloss die Tür ab.
Die Worte auf dem Zettel haben mich stets begleitet. Die einzigen, die Sie vielleicht an mich schrieben, jedenfalls gefällt mir dieser Gedanke.
Wie sieht die Heimat aus, die du suchst, fragst du? Heimat ist alles, was dich umgibt; alles, was dich wachsen lässt; alles, was dich liebt und was du liebst; die Landschaft, die du siehst; die Häuser; die Bäume; die jungen Mädchen, die lachend davonlaufen; die Gesetze, die dich schützen; das Brot, mit dem deine Arbeit bezahlt wird; die Worte, die du sprichst; die Freude und die Traurigkeit, die du durch die Menschen und die Dinge erfährst, mit denen du lebst; die Menschen, die dich beschützen; das kleine Zimmer, in dem du manchmal deine Mutter gesehen hast; die Erinnerungen, die sie dir hinterlassen hat; die Erde, in der sie ruht; deine Rechte und deine Pflichten; deine Vorlieben und deine Bedürfnisse; die Dankbarkeit; die wünschenswerten guten oder schönen Dinge, die nicht unzuverlässig sind; alles vereint unter einem einzigen Namen, das ist die Heimat, die ich suche.
Seither habe ich nichts mehr von Ihnen gehört.
Fast zehn Jahre lang nicht.
Doch ich war fest davon überzeugt – warum, weiß ich nicht –, dass ich Sie irgendwann wiedersehen würde. In Geel oder anderswo, ich würde Sie wiedersehen. Wir hatten ein gemeinsames Schicksal, Monsieur van
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