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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Sie?«
    »Teresa Ohneruh.«
    »Weiter«, sagte Tarascon mit einer ausladenden Handbewegung. Das Ticken einer Pendeluhr war zu hören.
    »Sind Sie ein Mann oder eine Frau?«
    »Eine Frau.«
    »Gefallen Ihnen Frauen?«
    »Nein, mir ist die Gesellschaft von Männern lieber.«
    »Nicht wahr, Sie wissen doch, dass Sie uns keine Wahl lassen, wenn Sie weiter auf diese Weise antworten?«, sagte der Assistent.
    »Ich weiß.«
    Da nahm Tarascon eine Lederkappe aus dem Schreibtisch. »Du bist wirklich schwer von Begriff, du gibst die falschen Antworten, und dann wird es dir wieder schlecht gehen. Wenn du stattdessen richtig antwortest, bekommst du eine doppelte Portion Suppe«, sagte er zu mir, wobei er pausenlos auf und ab ging. »Warum sträubst du dich so? Du machst mich noch wahnsinnig! Du und ich, wir könnten Großes zusammen bewirken, wir könnten berühmt werden, wenn du nur mitarbeiten würdest ...«
    Anfangs wand ich mich und versuchte, mich zu befreien. Ich biss. Ich trat um mich. Doch bald hörte ich damit auf. Ich fügte mich. »Du hast mich schon in den Wahnsinn getrieben! Verflucht sei der Tag, an dem ich versucht habe, dich zu heilen, anstatt dich in diesem gottverlassenen Nest deinem Schicksal zu überlassen«, sagte Tarascon schließlich jedes Mal und winkte mit der Lederkappe den Assistenten heran. Die Haut an meinen Armen spannte sich. Sie war nun wie ein Schildkrötenpanzer.
    Sie setzten mir die Kappe auf.
    Sie zogen den Riemen unter meinem Kinn fest.
    Ich konnte nicht mehr sprechen.
    »Schaffen Sie ihn fort. Bringen Sie ihn ein bisschen auf Touren. Früher oder später wird er schon aufgeben. Das ist nur eine Frage der Zeit.«
    Bicêtre war ein sehr düsterer, schauriger Ort.
    Die Kranken waren abgezehrt und fieberbleich, entkräftet und vorzeitig gealtert. In einem niedrigen, engen Gang befand sich eine Reihe von Zellen. In jeder war ein Kranker in einem groben, schmutzigen Kittel. Ich ging weiter. Setzte meine nackten Füße auf den glitschigen Boden und tastete mich mit den Händen an der Wand entlang.
    Am schlimmsten war der Blick in den Raum. Wenn ich das Gesicht dessen sah, der vor mir dran gewesen war. Es war wie eine rote Maske. Überall Blut, und der Körper hing schlaff und leblos in den Armen der Pfleger: der Kadaver eines Tieres.
    Der Stuhl befand sich in der Mitte des Raumes, erhöht über dem Boden und mit einer Eisenkette an der Decke befestigt. Ständig war ein Quietschen zu hören, eindringlich und endlos, weil der Stuhl nie vollkommen stillstand.
    »Guten Abend, junger Mann«, sagte eine Stimme.
    Nun ließen mich die Pfleger mithilfe eines Trittbretts aufsteigen, weil ich für einen Mann eigentlich zu klein war, und stießen es weg, sobald ich saß. Unter meinem Gewicht begann der Stuhl stärker zu schwanken. Diese Bewegung verursachte mir sogleich Übelkeit, noch bevor der Mechanismus eingeschaltet war. Sie banden mir die Hände mit weiteren Lederriemen an den Armlehnen fest und fesselten meine Beine mit einer größeren Schlinge unter dem Sitz. Dann zogen sie die Riemen noch einmal kräftig fest, damit ich nicht herunterfiel, und gaben dem Assistenten des Professors, der die Aufgabe hatte, mich auch hierher zu begleiten, ein Zeichen.
    Der Mechanismus wurde in Gang gesetzt.
    Der Stuhl begann zu schwanken, vor und zurück, nach rechts und nach links. Schneller und schneller. Mir war, als stürzte ich in die Tiefe und ertrank, ich sah nur noch ein mattes Licht, weit weg, mein Magen schien mir in die Schläfen zu steigen, mein ganzer Körper schmeckte säuerlich, und meine Eingeweide schienen zu bersten, die Riemen verletzten mich, wenn sie nicht gut festgezurrt waren, ich hustete, meine Nase brannte, und im Mund hatte ich einen Geschmack von Eisen.
    Ich begann zu spucken, und schon bald spürte ich nichts mehr.
    Es ging mir gut. Ich spürte nichts mehr.
    Es ging mir gut.

    Hier in Saint-Rémy geht es mir besser als in Bicêtre.
    Man ist freundlich hier. Doktor Peyron, Schwester Henriette. Niemand fragt mich mehr, wer ich bin. Sie übergießen mich höchstens mit eiskaltem Wasser, wenn ich nachts gegen die unerwünschten Annäherungsversuche irgendeines Insassen rebelliere. Sie tun mir nicht weh. Hier sieht man die Berge, Iris, Mohn, und alles ist in ein Licht getaucht, das es im Norden nicht gibt. Ein glückliches Licht.
    Hier in Saint-Rémy geht es mir aber auch schlechter als in Bicêtre, denn ich bin nicht hier, um gesund zu werden.
    Wie viele Briefe habe ich nicht schon geschrieben,

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