Alle Farben der Welt - Roman
Monsieur van Gogh.
Wie viele, vor diesem hier?
An Icarus, an Doktor Shepper, an die Vanheims. Ich wollte zurück nach Geel. Ich schrieb lange, flehentliche Briefe und versuchte, sie zur Post zu bringen, sie jemandem anzuvertrauen. Ich gab sie den Pflegern oder den Schwestern. Ich bat sie auf Knien. Doch ich glaube nicht, dass je einer dieser Briefe zugestellt wurde.
Dann hörte ich damit auf. Ich schämte mich zu sehr.
Ich möchte nicht, dass irgendwer mich so sieht.
Ich möchte nicht, dass irgendwer erfährt, was mir zugestoßen ist.
Ich möchte so schnell wie möglich im Erdboden versinken.
Wer hat das so bestimmt, Monsieur van Gogh?
Hat Gott das alles so bestimmt?
Oder Doktor Tarascon?
Wer ist so niederträchtig?
Bin ich selbst schuld? Was habe ich Böses getan?
Mein ärztliches Gutachten kenne ich auswendig. Niemand in Geel hat es gelesen, außer den Vanheims und Doktor Shepper. Sie sorgten dafür, dass nichts durchsickerte, dass niemand etwas erfuhr, es war doch so peinlich , weshalb sie mich bereitwillig in Doktor Tarascons Obhut gaben, sie unterschrieben die Papiere, ohne sie auch nur gelesen zu haben, damit mein Name für immer verschwand und kein Mensch ihn je wieder aussprach.
Tarascon setzte mich in die erstbeste Kutsche und brachte mich fort.
Teresa wurde nach ihrer Geburt am 27. September 1864 standesamtlich als eine Person weiblichen Geschlechts registriert. Nach Inaugenscheinnahme der Geschlechtsorgane und einer gründlichen Untersuchung durch Abtasten stellte ich jedoch die Abwegigkeit dieses amtlichen Zeugnisses fest.
Der Bereich über dem Schambein der Patientin ist mit schwarzem, lockigem Flaum bedeckt. Bei Öffnung der Oberschenkel wird eine Longitudinalspalte sichtbar, die sich bis zum After erstreckt. Erkennbar ist jedoch auch eine kleine Extremität mit einer Länge von drei bis vier Zentimetern, gemessen vom Ansatz bis zu ihrem freien Ende, die nach Beschaffenheit und Größe keine Klitoris sein kann und ohne jeden Zweifel penisartig ist. Nach längerem Abtasten neigt sie tatsächlich dazu, steif zu werden und anzuschwellen. Gleichwohl befinden sich zu beiden Seiten der Spalte zwei behaarte große Schamlippen. Durch Tasten entdeckte ich links einen kleinen, eiförmigen Körperteil, der mit einem Samenleiter verbunden ist. Es handelt sich fraglos um einen Hoden, der sich nicht ganz abgesenkt hat. Einen Zentimeter unter dem Penis befindet sich der Ausgang einer typisch weiblichen Harnröhre. Darunter liegt die Öffnung eines weiteren Kanals von etwa sieben Zentimetern Länge und etwa zwei Zentimetern Breite. Es handelt sich um einen Vaginalgang. In diesen führte ich persönlich einen Finger ein und ertastete Scheidenwände, die jedoch nicht zu einem Gebärmutterhals führten. Ein solcher scheint nicht vorhanden zu sein. Ich stellte eine leichte Blutung fest, die ich ausschließlich auf das Eindringen meines Fingers zurückführe. Es ist bekannt, dass nie eine Menstruation aufgetreten ist. Die Patientin – oder besser: der Patient – weist folglich sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale auf. Ich schlussfolgere daraus, dass wir es hier mit einem hermaphroditischen Individuum zu tun haben, das beim Koitus theoretisch gleichermaßen die Rolle beider Geschlechter einnehmen könnte, die die Natur in männlich und weiblich unterteilt hat. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass es in beiden Fällen unfruchtbar ist, auch wenn die derzeit noch nicht aufgetretene Produktion von Samenflüssigkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Der männliche Teil ist eindeutig der dominierende, obwohl der Patient stets als Frau angesehen wurde, ein Umstand, der seine Entwicklung zweifellos gehemmt hat. Auf jeden Fall hat die Missbildung der Geschlechtsorgane zu einer Störung des Gefühlslebens und der sittlichen Neigungen des Patienten geführt, da er sich offenbar zu Personen männlichen Geschlechts hingezogen fühlt. Folglich ist es notwendig, ärztliche Schritte und gegebenenfalls chirurgische Eingriffe durch eine Therapie der Umerziehung zu ergänzen, damit der Patient zu seinem natürlichen Gleichgewicht zurückfindet.
Ich beantrage daher beim Herrn Gesundheitsminister die Vormundschaft über den Patienten, verbunden mit der Erlaubnis, mich seiner anzunehmen, solange die Wissenschaft dies erfordert.
Mein Name ist Thierry Savel, ich bin vor Kurzem sechsundzwanzig Jahre alt geworden, doch geboren bin ich erst vor zehn Jahren.
Wissen Sie, wie oft ich diesen Satz in meinem
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