Alle Farben der Welt - Roman
verfolgt. Anfangs begleitete mich Schwester Henriette sogar bis in die Waschküche, doch dann sah sie, dass ich nicht gefährlich bin und ich mir auch nichts antun will. Dienstags ist immer ein junger Pfleger im Schlafsaal, er heißt Leroy, und es kommt vor, dass er selbst fest einschläft. Mit dem Mut der Verzweiflung zog ich ihm eines Abends den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür zum Archiv und schlüpfte hinein. Ich sah dunkle Holzmöbel und öffnete einen der unteren Karteikästen. Es stieg so viel Staub auf, dass es wie Rauch aussah. Ich fand zahllose Gutachten über Patienten, die hier vor vielen Jahren eingesperrt waren.
Ich nahm mir einen Stapel, schlich zurück und versteckte das Papier in meinem Bett und unter den Dielen, wie es gerade kam. Je länger ich hier bin, desto einfältiger gebe ich mich, daher hält man mich für harmlos, und niemand kommt auf die Idee, ich könnte dem Pfleger Leroy einen Schlüssel aus der Tasche ziehen oder auch nur einen Satz zu Papier bringen.
Ich schreibe Ihnen nachts, wenn alle schlafen, immer nur ein kurzes Stück. Es ist nicht leicht, doch ich schaffe es. Nur einige Seiten pro Tag, aber ich komme voran. Vielleicht hat die eine oder andere Schwester es bemerkt, tut aber nichts, um mich davon abzuhalten. Vielleicht beobachten die Ärzte oder Trabuc mich auch und lesen diese Seiten heimlich.
Das ist mir verdammt egal.
Ich habe keine Angst davor, erwischt zu werden. Was könnte man mir schon antun, was man mir noch nicht angetan hat?
Ich las die Namen vieler Patienten, die hier eingewiesen wurden. Wer weiß, wer sie waren, was sie getan haben. Gern würde ich mich an alle ihre Namen erinnern. Ich habe sogar erwogen, sie für diesen Brief hier abzuschreiben. Nicht mehr von mir zu schreiben, sondern von ihnen und ihren Geschichten. Die Gründe, aus denen man sie nach Saint-Rémy gebracht hat, sind immer die gleichen: Raserei, Unruhe, Besessenheit, Obsessionen, Gewalttätigkeit, Sodomie .
Manchmal möchte ich dagegen nur vergessen. Ich wünschte, dieser Brief würde nie enden. Ich träume davon, immer wieder ins Archiv zu gehen und so lange weiterzuschreiben, bis kein Gutachten mehr übrig ist, bis ich sämtliche Karteien vernichtet habe und niemand mehr den Namen auch nur eines Verrückten kennt.
Ich wollte nicht, dass Sie mich wiedererkennen, Monsieur van Gogh. Heute bin ich ein ganz anderer Mensch, und es ist mir lieber, wenn Sie mich so in Erinnerung behalten, wie ich früher war. Dieser Brief soll bei Ihnen die schönen Bilder von damals heraufbeschwören, als ich noch ein Mädchen wie jedes andere war. Ich möchte für Sie dieses Mädchen bleiben, das Mädchen, mit dem Sie an der Nete spazieren gingen, das wenig Busen und breite Schultern hatte und lange, schwarze Haare. Das von der Begegnung mit Ihnen und in Ihrer Gegenwart ganz aufgewühlt war. Das noch davon träumte, zu heiraten und Kinder zu haben. Dabei kann ich gar nicht heiraten, Monsieur van Gogh. Ich kann auch keine Kinder bekommen. Mein Bauch ist missraten, kein Leben kann darin sein.
In Gedanken war ich immer bei Ihnen, Monsieur van Gogh. All die Jahre. Ich habe Sie mir als einen Maler vorgestellt, der mit seiner Palette durch die Welt zieht, der in Zeitschriften und in namhaften Galerien in den Städten zu finden ist. Ich habe Sie mir als einen reichen Mann vorgestellt. Habe davon geträumt, dass Sie eines Tages nach mir fragen würden. Dass Sie Ihren ganzen Einfluss geltend machen und Ihre Verbindungen nutzen würden, um herauszufinden, was aus Teresa Ohneruh geworden ist. Und nachdem Sie erfahren hätten, was mir geschehen ist, wären Sie entrüstet gewesen, wären mit einer Kutsche gekommen und hätten mich abgeholt, um mein Beschützer und mein Geliebter zu sein. Um mich von hier fortzubringen. Um mich nach Geel zurückzubringen.
Stattdessen geistern Sie durch diese Flure hier, mit der Leinwand unter dem Arm und einem abwesenden Blick, mit einem Verband um den Kopf und mit zittrigen Händen. Vielleicht warten auch Sie auf jemanden, der Sie fortbringt, auch Sie wurden besiegt.
Wir haben verloren, Monsieur van Gogh.
Ich hasse Sie.
Sie hätten Ihre Zeit mit mir besser verbringen können. Nie haben Sie hier Notiz von mir genommen.
Ich habe Sie nicht angesprochen, habe Sie auf der Treppe, im Garten, im Speisesaal nicht aufgehalten. Das nicht, doch ich bin immer noch eine Frau. Ich hoffte, Sie würden mich erkennen. Sie sind es, der mir hätte sagen müssen, dass ich noch immer dieselbe
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