Alle jagen John Mulligan
sie den Schlüssel ein und schloß auf, und im nächsten Augenblick stand ihr Rodwell gegenüber.
»Ach du mein lieber Gott!« rief da das Mädchen, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten, »ich kann ja nichts dafür - ich bin ja wahrhaftig unschuldig, wenn ich es mir auch gedacht habe, daß das Unglück noch geschehen würde.«
Rodwell war leichenblaß geworden. Er zitterte so, daß er sich an Tolmer halten mußte, um nicht umzusinken. Nur sein stierer Blick saugte sich an dem Mädchen fest, das ihr Antlitz in den Händen barg und laut und heftig schluchzte.
»Was ist vorgefallen, Betsey?« fragte er endlich mit leiser, völlig tonloser Stimme. »Wo ist - meine Frau - mein - Kind?«
»Fort!« stöhnte da das Mädchen, »O du lieber Gott, fort - fort - beide!«
»Die Schlange!« hauchte Rodwell, und Tolmer sprang hinzu und hielt ihn, denn er sah, wie der starke Mann in die Knie brach, und glaubte, daß er zu Boden stürzen würde. Aber der Unglückliche raffte sich mit fast übermenschlicher Anstrengung wieder empor und schritt, Tolmers Arm ergreifend, langsam in sein Haus.
Langsam und nur zögernd folgte das Mädchen den beiden Männern mit dem Licht, und Rodwells umherschweifender Blick hatte rasch auf dem dunklen Tisch einen kleinen zusammengefalteten Brief erkannt. Er nahm ihn hastig auf und wollte ihn erbrechen, hielt aber plötzlich wieder an und legte ihn auf den Tisch zurück. Dann warf er sich auf das Sofa und sagte mit ruhiger, fester Stimme:
»Erzähle mir, was hier vorgefallen ist, Betsey. Ich brauche dich nicht zu ermahnen, mir die lautere Wahrheit zu sagen. Wenn du einst selig zu werden hoffst, sprich und mach mich mit allem bekannt, und sei es das Schrecklichste.«
Das Mädchen konnte vor heftigem Schluchzen kaum reden, nach und nach aber brachte Tolmer, der seine ganze Ruhe behielt und von Anfang an schon ahnte, was hier vorgegangen war, alles, was Betsey wußte, aus ihr heraus.
Kapitän Howitt - Rodwell griff bei dem Namen fest und krampfhaft in die Lehne des Sofas - war während seiner Abwesenheit oft - ja alle Tage im Haus gewesen, zu früher und später Stunde, und hatte viel und heimlich mit »Mistreß« gesprochen. Wenn er fort war, hatte Mrs. Rodwell manchmal geweint, aber er sei immer wiedergekommen, und gestern abend seien sie miteinander im Garten spazierengegangen. Gestern abend sei auch der Kapitän zum erstenmal in einem Boot gekommen, und Mrs. Rodwell habe gesagt, sie wolle ein wenig damit in die Bay hinausfahren. Sie - Betsey - habe das nicht zugeben wollen und gemeint, es sei schon zu spät, Mistreß aber hätte darauf bestanden und wäre mit dem Kind im Arm und Kapitän Howitt an der Seite in das Boot gestiegen. Wie sie darin gewesen, habe die Mistreß noch eine Flasche Milch für das Kind verlangt, wenn es etwas unruhig werden sollte, dann seien sie mit Mr. Rodwells Knecht, der sonst die Pferde besorgt hat, hinaus in die See gefahren - immer weiter, bis es dunkel geworden und sie das Boot nicht mehr habe erkennen können. Dann sei sie aufgeblieben und habe bis zwölf Uhr in der Nacht gewartet, daß sie zurückkehren sollten - aber sie kamen nicht - weder Frau hoch Kind kehrten zurück, und als sie im Zimmer das Briefchen an den Herrn da auf dem Tische gesehen, da habe sie auch das Schlimmste schon gewußt und sich die Augen fast aus dem Kopf geweint vor Scham und Weh.
»Es ist gut, Betsey«, sagte Rodwell und winkte ihr mit der Hand, hinauszugehen. »Zünde das Licht dort drüben an und laß uns dann allein.«
»Welche Richtung nahm das Boot?« fragte Tolmer, während das Mädchen dem Befehl gehorchte.
»Gerade dem Festland zu«, lautete die Antwort, und froh, keine weitere Rede mehr stehen zu müssen, verließ das Mädchen rasch das Zimmer, riegelte die Haustür wieder zu und stieg in ihre eigene Kammer hinauf.
Rodwell stand indessen von seinem Sitz wieder auf, erbrach den Brief, trat damit zum Licht und überflog mit stierem Blick die Zeilen.
»Da nehmt und lest«, sagte er endlich, als er wieder und wieder hineingesehen und immer noch das verhängnisvolle Blatt nicht aus der Hand legen wollte. »Nehmt nur, Kamerad, und seht meine Schande da schwarz auf weiß. Das Schlimmste wißt Ihr doch, und da Euch Gott einmal in dieser schweren Stunde zu meinem Vertrauten gemacht hat, erfahrt auch das andere. Vielleicht gebrauch ich ohnedies Euren Rat - Eure Hilfe.«
Tolmer nahm den Brief und las:
»Charles, verzeihe Deinem treulosen Weib. Ein dunkles Verhängnis
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