Alle lieben Merry
sollte froh darüber sein, dass die Realität nicht wie im Fernsehen war. Das Rechtssystem sollte sich ja der Belange von Kindern annehmen und so schnell wie möglich Lösungen finden.
Nur … irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Statt vor Nervosität durchzudrehen und aufgeregt nach Luft zu schnappen wie ein Hundebaby, das an den Strand gespült worden war, fühlte sie sich völlig ruhig und gelassen. Das war nicht normal. Natürlich hatte sie noch genügend Zeit, um in Panik auszubrechen. Es war ja erst zehn Uhr. Sie hatte noch ganze zwei Stunden, um sich anzuziehen, Charlene von der Schule abzuholen und zum Gericht zu fahren.
Sie durchforstete noch einmal ihren Schrank, doch es waren weder matronenhafte Kleider noch biedere Schuhe zu finden.
War das nicht beängstigend? Sie würde als sie selbst hingehen müssen.
Noch beängstigender allerdings war, dass ihr die Idee sogar irgendwie gefiel. Es gelang ihr – was ganz unüblich war –, sich in weniger als fünf Minuten fertig zu machen. Sie zog einen dunkelvioletten Flanellrock, einen dicken, weißen, handgestrickten Pulli und Stiefel an. Gerade versuchte sie, ihr Haar in Ordnung zu bringen, als das Telefon läutete. Es war ihr Dad.
“Ich wusste, dass du anrufen würdest”, sagte sie herzlich. “Nein, es geht mir gut, Dad. Im Ernst. Natürlich mache ich mir Sorgen, wie es ausgehen wird, aber im Moment ist es so ähnlich, als warte man beim Zahnarzt auf eine Wurzelbehandlung. Ich will es einfach hinter mich bringen. Und ich weiß, es klingt verrückt, aber ich freue mich auf die Gelegenheit, vor den Richter zu treten und ihm zu darzulegen, was ich empfinde …”
Sie kramte nach Ohrringen und trug etwas Rouge auf. Einen passenden Lippenstift zu finden stellte allerdings ein Problem dar. Obwohl die Tiegel und Farbtöpfchen, das Lipgloss und die Lippenstifte sich wie von selbst über Nacht vermehrten und sie gut zwei Dutzend davon besaß, schien keine Farbe wirklich zu Violett zu passen.
“Nein, Dad, Charlenes Mutter wird in einem anderen Raum sein. Es geht um zwei verschiedene Angelegenheiten. Meine Vormundschaft ist die eine Sache, und ob Charlenes Mutter ein Besuchsrecht, oder andere Rechte erhält, die andere. Nach allem, was der Anwalt herausgefunden hat, ist sie ziemlich daneben, also ist davon auszugehen, dass der Richter sich ein Bild von der ganzen Geschichte machen und dann das Richtige entscheiden wird …” Zugegeben, sie musste schlucken, bevor sie den Satz zu Ende führte. Und vielleicht war es ihr auch vollkommen egal, ob heute der Lippenstift farblich passte oder nicht, aber sie stopfte trotzdem drei verschiedene Stifte in ihre Handtasche. “Jedenfalls, mich interessiert nur, dass für Charlene heute etwas Gutes herauskommt. Ich komme damit schon klar, Dad, versprochen. Ich rufe dich am Abend an. Ich liebe dich auch …”
Sie legte auf und bearbeitete gerade ihr Haar – sie hatte sich für einen Pferdeschwanz entschieden –, als das Telefon wieder klingelte. Dieses Mal war es die Schulkrankenschwester, die sagte, Merry solle Charlene abholen. Sofort.
Nein, das war
kein
schlechtes Omen, dachte Merry, als sie zum Auto rannte. Heute würde sie jedes Problem bewältigen. Sie musste einfach. Denn es galt, um ein kleines Mädchen zu kämpfen, das ihr alles bedeutete. Und sie würde es durchziehen – und richtig machen.
Nur war für zusätzliche Krisen heute nicht viel Zeit.
Charlene saß eingemummt in ihre Jacke und mit gesenktem Kopf auf einem Mäuerchen vor der Schule und wartete. Ihr Blick war düster. Als Merry sie vorhin zur Schule gebracht hatte, hatte sie wie ein kleiner Engel ausgesehen. Die Kleine hatte sich heute Morgen entschlossen, sich anders anzuziehen. Sie trug Jeans und einen blau-weiß gestreiften Pulli und hatte ihr frisch gewaschenes Haar so gefönt, dass es ihr Gesicht beinahe wie ein Heiligenschein umrahmte. Charlie sah immer noch so entzückend aus wie um acht Uhr, nur ihr Gesichtsausdruck war ein anderer.
Sie kam aufs Auto zu gerannt, riss die Tür auf und warf ihre Bücher auf die Rückbank. “Ich hasse die Schule. Ich hasse meine Lehrer. Ich hasse alle anderen. Und ich gehe da nie wieder hin. Ich gehe auch nicht zu dieser doofen Verhandlung …”
“Aha”, sagte Merry. Die Schulkrankenschwester hatte ihr schon gesagt, was los war. Charlene hatte zum ersten Mal ihre Periode bekommen. Merry war ziemlich erstaunt gewesen – Himmel, ihr Baby war doch erst elf! Sie hatte damit gerechnet, dass Charlene vielleicht
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