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Alle lieben Merry

Alle lieben Merry

Titel: Alle lieben Merry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Greene
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sie.
    “Das habe ich auch gerade gedacht.”
    Sie lächelte ihn an. Im Schein der Straßenbeleuchtung, die durch das regennasse Fenster fiel, leuchteten ihr zerzaustes Haar und ihre Stirn, die ihm plötzlich unendlich faszinierend schien. Soweit er sich erinnern konnte – und er ließ die letzte halbe Stunde ausgiebig in Gedanken Revue passieren – war dies die einzige Stelle ihres Körpers, die er vernachlässigt hatte. Obwohl er erschöpft war, hob er den Kopf und küsste die zarte Haut genau zwischen ihren Augenbrauen.
    “Du bist etwas Kostbares”, sagte er. Seine Stimme klang rau, als er die Worte aussprach, so, als wären sie für lange Zeit tief in seinem Inneren begraben und mangels Verwendung eingerostet gewesen. Oder weil er Angst gehabt hatte, sie auszusprechen.
    “Dann bist du …” Sie verstummte. Sie hörten beide, dass das Telefon läutete. Merrys Körper spannte sich sofort an.
    Er verstand. Sie wollte nicht, dass Charlene so spät geweckt würde. Und außerdem war es – obwohl noch nicht Mitternacht – ein bisschen spät für einen normalen Anruf. Um diese Zeit konnte es sich bei dem Anrufer nur um den Überbringer einer schlechten Nachricht handeln. Sie sprang schnell aus dem Bett. “Ich muss …”
    “Klar”, sagte er. “Geh nur.”
    Der Anruf war über das Festnetz gekommen. In ihrem Schlafzimmer gab es keinen Anschluss. Er wusste nicht, wohin sie gegangen war, um abzuheben, aber das Telefon hatte aufgehört zu läuten. Nach einer Minute war sie immer noch nicht zurück. Weitere Minuten vergingen.
    Er war sich nicht sicher, was er tun sollte. Irgendwann musste er natürlich aufstehen, sich anziehen und wegen Charlene das Haus verlassen. Aber er wollte Merry erst allein lassen, wenn es wirklich sein musste. Je länger sie am Telefon war, desto mehr sorgte er sich, dass etwas passiert war.
    Als eine weitere Minute verstrich, stand er auf und zog seine Jeans und sein Sweatshirt an. Die Kleider waren zwar noch feucht, aber er konnte nicht gut nackt in ihrem Haus herumspazieren.
    Er fand sie in der Küche, über den Küchentisch gebeugt. Sie trug ein altes Hemd, das sie sich offenbar aus dem Wäscheraum geholt hatte, weil ihr kalt gewesen war, und hielt den Hörer an ihr Ohr gepresst. Ihr Gesichtsausdruck erschreckte ihn. Irgendetwas war eindeutig nicht in Ordnung. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen, ihr Blick war starr vor Angst. Ihr Körper war total angespannt, als hätte jemand sie geschlagen und als erwarte sie den nächsten Schlag.
    “Tun Sie, was Sie für richtig halten”, sagte sie ins Telefon und wartete kurz. Dann legte sie auf.
    “Mein Gott, was ist passiert?”, fragte er leise.
    Sie lächelte ihn an, obwohl sie zitterte. Doch ihre Augen waren voller Angst. “Es war Charlenes leibliche Mutter.” Sie schloss kurz die Augen und seufzte. “Es geht mir gut, Jack …”
    “Zum Teufel tut es das.”
    “Nein. Ich bin wirklich okay. Ich habe auf diesen Anruf seit Wochen gewartet. Nicht dass ich ihn mir gewünscht hätte. Aber wie es eben ist, wenn man auf schlechte Nachrichten wartet – es ist leichter, wenn man sie erfährt und das Warten vorüber ist. Das Problem liegt dann offen vor einem.”
    “Was kann ich für dich tun?”, fragte er.
    “Nichts. Das meine ich ehrlich.”
    Er wollte sie nicht allein lassen und nach Hause gehen – und er tat es auch nicht. Er blieb noch eine ganze Weile. Aber Merry machte sich Sorgen, dass Charlene morgens aufwachte und ihn sah, also musste er nach Hause. In der Zwischenzeit war sie nicht mehr ganz so nervös. Völlig entspannt wirkte sie allerdings auch nicht – sie konnte ihm nichts vormachen. Doch jetzt, mitten in der Nacht, schien es wirklich nichts zu geben, was er konkret hätte tun können.
    Nachdem er gegangen war, ließ ihm die Sache keine Ruhe.
    Er hatte in Wahrheit gar nichts für sie getan. Auf jeden Fall nichts, womit er es sich verdient hätte, dass sie ihn immer wie einen Helden behandelte.
    Nichts, was ihre Liebe zu ihm rechtfertigen würde.
    Jeder, der ab und zu fernsah, wusste, dass die Mühlen des Gesetzes langsam mahlen. Doch seit dem schrecklichen Treffen mit June Innes waren nur zwei Wochen vergangen – wer hätte ahnen können, dass der Richter so bald einen Termin für die Verhandlung festsetzen würde? Merry durchwühlte ihren Kleiderschrank wieder und wieder – sie hatte sich für diesen Anlass etwas gekauft, aber es war nicht das Richtige. Nichts schien das Richtige zu sein. Sie sagte sich, sie

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