Alle lieben Merry
aufgeregt sein würde oder ihr die Sache etwas peinlich wäre, aber doch nicht mit einem Armageddon. Merry sagte kein Wort und fuhr los.
“Mensch, Merry, du lebst seit zwei Monaten hier! Du musst
links
abbiegen!”
“Ich habe nicht aufgepasst”, gab sie zu.
“Es nützt auch nichts,
wenn
du aufpasst. Du würdest dich auch in einer Garage für ein einziges Auto verfahren. Ich glaube, du bist ein ziemlich hoffnungsloser Fall.”
“Hm. Ich sollte mich eigentlich verteidigen, aber es dürfte keinen Sinn haben.” Sie räusperte sich. “Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?”
“Nein.”
“Es geht dir bestimmt besser, wenn du darüber redest.”
“Glaubst du, mich interessiert deine Meinung?”
Merry atmete tief durch. “Hey, ich rede nicht so mit dir, also redest auch du nicht in diesem Ton mit mir.”
“Na und? Ich will ohnehin nicht reden. Mit niemandem. Nie mehr. Solange ich lebe.”
Merry ließ das Kind in Ruhe. Sie konnte sich noch gut an den einen oder anderen Wutausbruch erinnern, als sie in Charlenes Alter gewesen war. Bis zur Verhandlung war noch genügend Zeit, damit die Lage sich beruhigen konnte – und Verhandlung hin oder her, Charlene brauchte offensichtlich ein bisschen Zeit für sich. Möglicherweise würde es auch etwas länger dauern, denn sobald sie wieder daheim waren, stürmte Charlene ins Haus und verschwand Türen knallend im Badezimmer.
Merry hörte, wie die Dusche aufgedreht wurde. Dann verstummte das Geräusch. Minuten vergingen, aber die Tür blieb zu.
Als sich der Türknopf endlich bewegte und die Tür einen Spalt aufging, kam so viel Dampf aus dem Badezimmer, dass man jederzeit Gemüse darin hätte kochen können. Merry hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt und blätterte bewusst gelassen in einer Frauenzeitschrift. Vor die Badezimmertür jedoch hatte sie ein kleines Bündel Kleider gelegt. Saubere Unterwäsche, frische Socken, Jeans und einen rosa Pulli – Mädchenklamotten, die sie gekauft hatte, als ihr zum ersten Mal aufgefallen war, dass Charlene den Anflug eines Busens bekam.
Sie sah nicht auf. Dann hörte sie ein Geräusch in der Küche.
“Möchtest du etwas essen?”, rief Merry. “Ohne irgendetwas im Magen wird der Nachmittag bestimmt lang.”
“Vielleicht”, sagte Charlene gereizt. “Ich kann nicht glauben, dass du mir einen
rosa
Pulli hingelegt hast.”
“Rosa ist eine Glücksfarbe.”
“Vielleicht für dich.” Allmählich schien die Wut sich zu legen. Charlene sah ihr zu, wie sie das Mittagessen vorbereitete. Merry kochte zwar nicht oft und konnte es vielleicht auch nicht besonders gut, aber sie war Spezialistin in der Zubereitung von tröstlichen Snacks. Rührei. Arme Ritter mit frischen Blaubeeren. “Wenn das alles vorbei ist, Merry, wenn diese Frau weg ist und wir nie mehr zu einer dieser verdammten Scheiß-Verhandlungen müssen …”
Charlene brach ab. Sie wartete offensichtlich darauf, dass sie wegen ihrer Ausdrucksweise gerügt wurde. Als Merry nichts sagte, führte Charlene ihren Satz zu Ende. “Ich habe mir überlegt, ob ich vielleicht ein Kätzchen haben könnte.”
“Klar.”
“Wirklich?”
“Wirklich. Ich hätte auch gern eines.” Merry spürte, wie die Stimmung in der Küche sich veränderte. Vielleicht war der Grund, warum sie es diese Woche geschafft hatte, so ruhig und gelassen zu bleiben, dass Charlene die ganzen Tage so schrecklich nervös und angespannt gewesen war. Und der heutige Morgen hatte es für die arme Kleine nicht gerade leichter gemacht.
Charlene stocherte eine Weile auf ihrem Teller herum. Schließlich begann sie doch zu essen, und als sie den Mund schön voll hatte, sprudelte es aus ihr heraus. “Ich hatte gerade Mathe. In der ersten Stunde. Plötzlich habe ich gespürt, dass da unten alles nass ist. Und Dougall ist in Mathe ja in der gleichen Klasse wie ich. Ich konnte weder aufstehen noch mich bewegen. Ich wollte einfach nur sterben.”
“Oh, Charl, mir wäre es genauso ergangen.”
“Ich würde am liebsten immer noch sterben. Dad hat mir alles darüber erzählt. Aber ich dachte, ein Mädchen kriegt das erst mit dreizehn. Nicht jetzt. Meine Güte, ich bin noch nicht einmal zwölf. Es ist total ätzend.”
“Das hast du ganz richtig erkannt.”
Charlene hob drohend den Zeigefinger. “Versuch ja nicht, mir einzureden, wie glücklich ich sein sollte, dass ich jetzt eine Frau bin.”
“Glaub mir, das werde ich bestimmt nicht. Es hat mich auch genervt, als man das zu mir gesagt hat. Und bei
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