Alle lieben Merry
Sie war nicht wirklich mit den Nerven am Ende. Sie wollte nur, dass einmal etwas reibungslos funktionierte. “Nein, ich rede von einem Mädchen …”
Endlich rief Frank so laut, dass er den Lärm übertönte “Charlene”, um das Kind auf sich aufmerksam zu machen. Als es reagierte, begann Merry zu kapieren.
Das dünne Etwas – das mit dem Bürstenschnitt wie ein Marine, dem überlangen Männer-T-Shirt, dem Tattoo am Unterarm und den Kampfstiefeln – war tatsächlich
ihres.
Folgsam legte das Kind das Computerspiel weg, stand auf und schlenderte zu ihnen herüber. Der Leiter befahl ihm, Merry die Hand zu geben. Das Kind tat es. Und obwohl Merry das dringende Bedürfnis hatte, das Kind in die Arme zu schließen und es so fest zu drücken, dass ihm beinahe die Luft weg blieb, erwiderte sie den höflichen steifen Händedruck.
“Sehr erfreut, Sie kennenzulernen”, sagte Charlene.
“Ich bin auch ganz begeistert, dich endlich kennenzulernen”, sagte Merry, aber statt des herzlichen, optimistischen Tons, den sie sich vorgestellt hatte, klang ihre Stimme nur wie ein mattes Flüstern.
Das Kind sah aus wie sein Vater, zumindest, was die schlanke Statur und Feingliedrigkeit, das blonde Haar und die blauen Augen betraf. Aber das männliche Outfit, der roboterhafte Gang und das forsche Auftreten verblüfften – und verwirrten – Merry sehr.
Das war Charlene?
Das süße kleine Mädchen, für das sie Glitzerarmreifen und rosa Söckchen gekauft hatte?
3. KAPITEL
E s war noch nicht einmal zehn Uhr, aber der Morgen hatte sich bereits zu einem einzigen Albtraum entwickelt. Auf der Fahrt nach Hause entdeckte Merry, dass Charlene doch des Sprechens mächtig war. Die einzigen Worte, die ihr jedoch über die Lippen kamen, waren: “Sie bringen mich heim, oder?”
Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Sie hatten einen Koffer mit ihren Sachen gepackt, ihn auf dem Rücksitz des Minis verstaut, hatten sich vom Leiter des Seniorenheims unterschreiben lassen, dass Charlene in Merrys Obhut entlassen worden war, und waren losgefahren.
Danach hatte sich das Kind auf den Beifahrersitz gesetzt und verhielt sich seither wie eine folgsame Maschine. Charlene war nicht unhöflich. Aber von ihr kam kein Lächeln oder der Versuch einer Unterhaltung. Sie hatte die klassische Haltung eines Marines eingenommen – die Stiefel fest am Boden, den Rücken aufrecht, den Blick geradeaus.
Immer wieder sah Merry zu ihr hinüber und bemühte sich, den dämlichen Bürstenschnitt mit dem Gesicht eines kleinen Mädchens mit großen blauen Augen, feinen Zügen und einem süßen Mund in Einklang zu bringen. Es war wie der Versuch, Erdnussbutter mit Essiggurken zu kombinieren. Die Kleine wirkte so starr und steif in den Sicherheitsgurt geschnallt, als hätte sie weder Angst noch irgendein anderes Gefühl – und würde ganz gewiss auch keines zugeben.
Merry war so durcheinander, dass sie vergaß, auf welche Straßenschilder sie achten musste. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie gleich nach der Ausfahrt in die falsche Richtung abgebogen war.
Dieses einander Anschweigen musste ein Ende haben. “Charlene …”, begann sie.
“Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es mir lieber, wenn Sie mich Charlie nennen.”
“Okay, also Charlie.” Merry musste lächeln.
Meine Güte, konnte ein elfjähriges Mädchen ein Problem mit seiner Geschlechtszugehörigkeit haben?
Oder ein Transgenderproblem? Oder wie auch immer man es nannte, wenn man sich in seinem Körper nicht wohlfühlte?
“Charlie, ich weiß nicht, ob dir irgendjemand gesagt hat, wer ich bin.”
So, jetzt war zumindest ein wenig mehr Unterhaltung notwendig.
“Natürlich hat man mir das gesagt. Mr. Oxford hat mir erklärt, dass ich nur nach Hause kann, wenn sich jemand um mich kümmert. Dann ist Mrs. Innes gekommen, um mit mir zu reden, und von ihr habe ich erfahren, dass Sie kommen. Damit ich eine Zeit lang wieder nach Hause darf.”
“Nicht nur eine Zeit lang, Charlene – Charlie.” Verdammt, sie hätte beinahe eine rote Ampel übersehen. Und ihre Hände am Lenkrad waren nass wie ein Waschlappen. Sie hatte schon geglaubt, in der Vorstadtidylle gelandet zu sein, sei ein Irrtum gewesen, aber das hier … sie wollte diesem Kind wirklich helfen … nur, bis jetzt hatte sie nicht einmal einen Blick auf das kleine Mädchen, das hinter dem Outfit und in diesen großen klobigen Stiefeln steckte, erhaschen können.
“Wir wissen nicht, für wie lange”, sagte Charlene sehr sachlich.
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