Alle lieben Merry
“Es könnte nicht funktionieren. Sie kennen mich nicht.”
“Und du kennst mich nicht. Aber wir können beide versuchen, dass es klappt, und gleich jetzt damit anfangen.”
“Sicher.” Das Kind sagte “sicher”, aber seine Stimme und Haltung signalisierten
Ich glaube dir nicht. Ich glaube niemandem.
Merry war verunsichert. Sie war immer ein so geselliger Mensch gewesen, dass sie geglaubt hatte, auch eine Wand zum Sprechen bringen zu können – aber wie kam man mit einem Teenager ins Gespräch, der einfach nicht reden wollte? “Vielleicht kann ich dir ein paar Dinge von mir erzählen, und dann erzählst du mir ein bisschen von dir, in Ordnung?”, versuchte sie es.
Keine Antwort.
“Okay! Ich fange an!” Meine Güte, hatte sie diese Straßenecke jemals zuvor gesehen? Sie bog rechts ab. “Ich mag dunkle Schokolade. Schaumbäder. Ich hasse Erbsen. Ich trage nur Schuhe, wenn es unbedingt sein muss, und ich schreie, wenn ich eine Maus sehe …”
Aha, keine Antwort vom Beifahrersitz. Der Versuch, nett zu sein, funktionierte also nicht. Sie probierte einen anderen Kurs. “Ich bin in Minnesota aufgewachsen, größtenteils in der Gegend um Rochester – wo die Mayo-Klinik ist. Mein Dad ist Anästhesist. Wir haben nie am Stadtrand gewohnt wie du. Unser Haus lag an einem See mit viel Wald rundherum. Ich habe zwei Schwestern, aber beide sind mehr als zehn Jahre älter als ich, also gab es in meiner Kindheit eigentlich nur mich und meinen Dad …”
Merry dachte, es würde dem Kind vielleicht helfen zu wissen, dass ihre Lebenssituationen ähnlich waren – also nur mit einem Vater aufgewachsen zu sein – aber Charlene zeigte auch darauf keinerlei Reaktion. Merry zog in Erwägung, fortan den Mund zu halten, aber bestimmt würde das Kind sich schneller wohler fühlen, je mehr es über sie erfuhr. Und das war die Hauptsache. Deshalb plauderte sie weiter.
“Man kann nicht sagen, dass ich eine gute Schülerin war. Hauptsächlich befriedigend und ausreichend. Ich hatte es einfach nicht so mit den Schulbüchern. Mehr mit den Cheerleadern …” Hm, das war eindeutig kein biografisches Detail, mit dem sie punkten konnte. Nicht bei einem Mädchen, das Army-Klamotten trug. “Ein paar Jahre war ich am College, aber ich hatte nicht wirklich etwas mit Karriere am Hut …”
Sie versuchte zu überlegen, was sie sagen sollte und was nicht. “Also habe ich zu arbeiten begonnen. Als Assistentin eines DJ’s bei einem Radiosender – das hat Spaß gemacht. Dann in einem Versicherungsbüro – das war eigentlich auch nicht uninteressant. Eine Möglichkeit, den Leuten zu helfen und etwas über ihr Leben zu erfahren. Eine Zeit lang war ich auch Praktikantin im Management beim Modelabel Ann Taylor …”
Endlich war ein Ton vom Beifahrersitz zu hören. “Sie haben keine Ahnung, ob das der richtige Weg ist, oder?”
“Nein?” Wie oft hatte ihr Vater ihr diese Frage im richtigen Leben gestellt? Hatte sie jemals eine Ahnung, wohin sie unterwegs war? Würde sie jemals eine Arbeit oder einen Ort finden, wo sie bleiben wollte?
Aber Charlene meinte anscheinend etwas völlig anderes. Das Kind sagte geduldig: “Sie fahren in die falsche Richtung. Ich meine, ich weiß ja nicht, wohin Sie möchten, aber wenn Sie nach Hause wollen, ist es hier falsch. Also, zu
mir
nach Hause”
“Wir
sind
zu dir nach Hause unterwegs. Äh, du weißt nicht zufällig den Weg, oder?”
“Natürlich.” Endlich eine Art Gespräch. Es folgten präzise, klare Anweisungen, wohin sie fahren musste.
Na also! Sie hatte sich nur elf oder zwölf Kilometer verfahren. Sie war schon schlechter gewesen. “Du möchtest doch nach Hause, nicht wahr, Charle… Charlie?”
“
Ja.”
Ha! Das erste Anzeichen einer Gefühlsregung. Ein ehrliches Ja. Ein verzweifeltes Ja. Ein Ja, das Merry mitten ins Herz traf und sie in ihrem Wunsch bestärkte, dem Kind näherzukommen, egal, wie schwer es war. Und sie rief sich das Offensichtliche ins Bewusstsein. Sie beide waren erst am Anfang. Niemand hatte gesagt, dass es leicht werden würde, und sie hatte es auch nicht erwartet.
“Wie war’s – die Woche mit deiner Urgroßmutter?”, fragte sie.
Charlene rümpfte die Nase. “Ist das eine Fangfrage?”
“Nein. Du hast ja bei ihr im Heim gelebt, also dachte ich …”
“Als wir das erste Mal nach Virginia gezogen sind, war ich noch sehr klein, aber ich kann mich erinnern, dass mein Vater gesagt hat, es sei ihretwegen. Weshalb wir nach Virginia gingen, meine ich. Weil
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