Alle lieben Merry
seine Großmutter dort war und es sonst niemanden gab, der sich um mich kümmern konnte. Das ist nur schon viele, viele Jahre her. Sie weiß nicht mehr, wer ich bin. Sie erkennt überhaupt niemanden mehr. Aber alle waren ganz nett zu mir. Ich möchte nur wirklich sehr, sehr gern wieder nach Hause.”
“Du hast bestimmt einiges in der Schule verpasst, oder?” Merry wusste schon, wie die Antwort auf diese Frage lauten würde, aber Charlene hatte endlich zu sprechen begonnen. Sie wollte, dass sie nicht aufhörte.
“Ja, ich weiß. Alle flippen deshalb aus. Aber ich halte das für ziemlich doof. Ich habe nur ungefähr eine Woche versäumt, weil vorher Weihnachtsferien waren. Und ich habe ohnehin lauter Sehr-Gut bekommen. Außerdem konnte ich mit den Büchern den Stoff genauso lernen wie in der Schule.” Plötzlich drehte sie den Kopf und sah Merry an. “Ich wette, Sie denken, dass es mit mir schwierig wird. Aber das wird es nicht, ich verspreche es. Wenn Sie mich nur nach Hause bringen, werden Sie keine Probleme mit mir haben. Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert.”
“Charlene, deswegen habe ich mir überhaupt keine Sorgen gemacht …”
“
Charlie.”
“Charlie, ja. Ich …”
“Sie haben sich wieder verfahren, nicht wahr.” Dieses Mal hatte die Kleine sich nicht mehr die Mühe gemacht, ihre Bemerkung wenigstens fragend klingen zu lassen.
“Sieht ganz so aus. Hast du Lust auf einen Hamburger, auf ein Eis oder sonst etwas?”
“Nein.”
“Weißt du, äh, wohin wir jetzt abbiegen müssen?”
Merry befolgte brav die Anweisungen der Elfjährigen. Zuerst nach links, dann nach vier Häuserblocks dorthin, dann dahin … Es war eine neue Erfahrung, einmal wirklich auf Tipps zu hören, aber es schien ihr immer noch keine Bonuspunkte bei Charlene zu bringen.
Eilig überlegte sie, ob es vielleicht helfen würde, das Eis zu brechen, wenn sie versuchte, über Charlie zu reden. “Ich kannte deinen Dad, als du noch ein Baby warst und ihr beide in Minnesota gelebt habt. Ich habe große Stücke auf ihn gehalten.”
“Ja, klar.”
“Klar?” Merry nahm Charlenes Skepsis wahr, hatte aber keine Ahnung, woher sie kam.
“Wenn ihr beide so gute Freunde wart, wie kommt’s, dass ich Ihren Namen noch nie gehört habe? Wie kann es sein, dass wir Sie nie getroffen haben?”
“Wir waren zu der Zeit gut befreundet, in der sich deine Eltern scheiden ließen, Charlie. Vielleicht hat dein Dad deshalb nie darüber gesprochen, weil diese Zeit so schlimm für ihn war – und sie war auch etwas, woran auch du nicht erinnert werden solltest.”
Schweigen.
Sie fuhr fort: “Aber damals hat dein Vater ständig über dich geredet. Wie sehr er dich geliebt hat. Was für ein Vater er sein wollte, wie er dich großziehen wollte, wie sehr er sich wünschte, dass du glücklich bist …”
Als sie endlich zu Hause ankamen, sprang Charlie wie von der Tarantel gestochen aus dem Auto, als könne sie es gar nicht erwarten, von Merry wegzukommen.
Der Höhepunkt des unsäglichen Tages war allerdings, als sie ins Haus ging und Charlene vor dem Baum stehen sah. “Was ist das denn?”
“Na ja, mir ist schon klar, dass Weihnachten vorbei ist, aber ich weiß, dass du kein Fest hattest. Ich dachte, ich könnte vielleicht versuchen, das Versäumte nachzuholen.” Du lieber Himmel, in Minnesota, als sie diese Idee gehabt hatte, war sie ihr brillant erschienen. Erst jetzt erkannte Merry, dass das Mädchen den Eindruck haben könnte, sie würde versuchen, es zu bestechen. Oder der Annahme sein, ein Haufen doofer Geschenke könnte den Tod ihres Vaters wiedergutmachen.
Charlene sah sie an, als wäre sie von einem anderen Planeten. “Das ist total nett von Ihnen”, sagte sie, “aber … er ist rosa.”
“Ich weiß, ich weiß. Es war der einzige Baum, den ich so spät nach Weihnachten noch auftreiben konnte”, log sie.
“Schon in Ordnung.”
“Aber ganz offensichtlich war nichts in Ordnung. Das Mädchen saß am Boden neben den Geschenken, als warte es auf eine Spritze beim Zahnarzt. Gewissenhaft packte es ein Geschenk nach dem anderen aus und sagte pflichtbewusst danke, auch wenn es keine Ahnung hatte, was das jeweilige Ding war.
Merry wusste –
wusste
–, dass alles falsch lief, aber es war so ähnlich, als würde man es sich beim Friseur während einer Dauerwellenbehandlung plötzlich anders überlegen. Wenn der chemische Prozess einmal begonnen hatte, war es einfach zu spät.
Charlie wollte nicht schwierig sein. Sie
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