Alle lieben Peter
starr auf mich gerichtet. Ich stürzte mich auf ihn: »Bist du getreten, Kerlchen?« Aber es war ihm nichts passiert. Er stand auf, schüttelte sich, witterte hinter dem entschwundenen Hirsch her. Fünf Zentimeter neben seinem Freßnäpfchen war der tiefe Eindruck seines Hufes im schwarzen Wiesenboden.
Dann kam Peter auf der Fährte angeschliddert, die Nase tief am Boden. Er war es offenbar, der den Hirsch aufgestöbert hatte. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihn am Schlips zu kriegen und festzulegen. Er sah mich mit glänzenden Mörderaugen an: »Ein Wild — ein Riesenvieh — verstehst du denn das nicht?« Das dunkelrote Zungenläppchen war voll weißen Schaums.
Da kam auch der Dicke auf der Fährte angebraust, wurde gepackt und ebenfalls an die Leine gelegt. Dann erst konnte ich mich um die Mama kümmern. Sie saß noch immer wie versteinert, beide Hände vor dem Mund: »Um ein Haar«, stammelte sie, »um ein Haar! Halt bloß die beiden fest!«
»Mach’ ich. Sehr erschrocken?«
»Mir zittern noch alle Glieder. Da fehlte aber auch nicht ein Meter!«
Ich schob den beiden Jägern die Näpfe hin. Cocki begann sofort seine Portion einzuatmen, aber Peter wich davor zurück. Er wollte zunächst trinken. Ich nahm Weffis leeren Napf und holte Wasser aus dem Bach.
»Ja, siehste, so ist das Leben«, sagte ich dann. »Der reine Knallbonbon mit Überraschungen. Man überlebt zwei Revolutionen und zwei Weltkriege und wird dann beinahe auf ‘ner Wiese von ‘nem Hirsch überfahren. Apropos Hirsch — hast du gesehen, wie wunderbar er war?«
Sie blickte dorthin, wo er verschwunden war, und ihr schneeweißes Gesicht begann sich zu entspannen und zu röten: »Ja — wie so ‘n großes Segelschiff kam er an. Nein, Cocki, das gibt’s aber nicht!« Der Dicke hatte seinen Napf geleert und watschelte mit vorgestellten Ohren und gerunzelter Stirn auf Peter zu, der so schnell schlang, daß ihm die Augen vor den Kopf traten. Ich packte den Dicken am Kragen und warf ihn auf Gegenkurs: »Dein Napf war bis zum Rand voll, und eine Pauke hast du, daß du kaum noch laufen kannst!« Er sah mich böse an, wackelte zum Bach, legte sich mit dem Bauch hinein und löffelte das Wasser ins Maul.
»Er ist doch ein komplettes Ungeheuer!« sagte die Mama. »Und dann mit dem nassen Bauch wieder in den Wagen!«
Peter schniefte. Irgendwas mit seinem Napf ging nicht klar. Er hatte ein Reiskorn auf der Nase, sein Bart tropfte, und das Ganze sah mich an. Ich ging zu ihm und hockte mich neben den Napf: »Na, was ist denn jetzt schon wieder? Ach herrje, ein Stück Papier im Fresserchen. Na, das ist allerdings toll.« Ich nahm das Papier heraus, es war ein mit Tinte beschriebener Zettel, der wohl ursprünglich auf dem Napf gelegen hatte und beim Auspacken hineingerutscht war. Die Schrift war verwischt, aber noch lesbar: »Guten Appetit, mein Liebling, zum letztenmal. Mathilde.«
Da hätte es mich beinahe doch noch erwischt. Es schoß mir mit einem Ruck heiß in die Augen.
»Was ist denn das?« fragte die Mama.
Einen Moment war ich versucht, ihr den Zettel zu zeigen. Aber es würde nur alle Wunden wieder aufreißen. Sie hatte es schwer genug. Ich zerknüllte den Zettel in der Hand: »Ach, nur ‘n Stückchen Papier vom Einpacken.«
Zwei Stunden später schwenkte ich in den großen Hof der >Krone< in Waldenau ein. Mit Befriedigung stellte ich fest, daß nur zwei Gäste in der Glasveranda saßen. Die Garagen standen alle offen und waren leer.
Als ich gerade die Tür aufmachte und mein Zoo herausquoll, erschien steifbeinig ein großer Schäferhund. »Ruhig, Lux!« rief der Hausdiener Sepp, der langsam von hinten ankam.
Ja, mein Gott — der Sepp — den gab’s ja auch noch! Ein ganz seltsamer Bursche übrigens. Wie er so daherkam mit den Gamsledernen und dem großkarierten Hemd, darüber das scharfgeschnittene holzbraune Gesicht, den Jägerhut mit der Spielhahnfeder in den Nacken geschoben, daß das dicke, störrische Haar darunter vorquoll, war er ein großartiger Typ — der geborene Wilderer und Fensterlspezialist, sollte man meinen, von dem die Mädchen in zehn Kilometer Umkreis träumten.
Aber als er näher herankam, sah ich, daß die Falten um seinen Mund noch tiefer geworden waren, die Schläfen noch grauer, und in seinen Augen stand noch immer jenes seltsame, gefrorene Weinen.
Ja, der gute Sepp. War mal ein glücklicher Mensch gewesen, ein großer Bauer hier draußen mit einer jungen Frau, die er über alles liebte, und zwei
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