Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

alle luegen

Titel: alle luegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Castaldo
Vom Netzwerk:
Jahren. Als wir über die Schwelle seines Heimes im sechzehnten Stock traten, hörte man durch die Tür der Wohnung nebenan gedämpfte Zankerei. Carmi schüttelte den Kopf und murmelte irgendwas.
    »Was war denn das?«, fragte ich.
    »Ausländer«, sagte er in säuerlichem Tonfall.
    Ich hörte eine Frau brüllen. Carmi runzelte die Stirn. »Manchen Leuten ist wirklich gar nichts peinlich.«
    »Woher kommt sie?«, fragte ich.
    »Aus Norwegen, glaube ich. Und sie ist ein Er.«
    Ein Er war interessanter als eine Sie.
    »Du solltest vorsichtig sein, während ich weg bin«, sagte Carmi. »Er ist ein ganz schön forscher Typ.«
    »Och, mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich. Damit konnte ich umgehen.
    Carmi musterte mich eingehend. Ich hatte ein Unschuldsgesicht und die Leute neigten dazu, mir auf den ersten Blick zu vertrauen.
    Wir betraten eine im Schachbrettmuster geflieste Diele. Eine Kombination aus Waschmaschine und Trockner in Puppenhausgröße stand in eine Ecke gequetscht; der Duft von Weichspüler hing in der Luft. Carmi zeigte auf einen Dreisitzer im Wohnzimmer. »Du schläfst heute Nacht da«, sagte er. Ich dankte ihm, während ich die voll gestopften Bücherregale, die Möbel aus der Steinzeit, den Schnickschnack, der auf dem Flohmarkt besser aufgehoben gewesen wäre, und die fünfunddreißig Jahre Staub in Augenschein nahm.
    Dann hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, mein Gastgeschenk zu präsentieren:
    »Tja, also«, sagte Carmi und lächelte, als er den Tanqueray auswickelte. »Sollen wir uns einen Longdrink mixen? Ich nehme immer ein Schlückchen, bevor ich ins Bett gehe.« Heute ist Dienstag, erklärte er. Dienstag war Gin-Tonic-Tag. Meine Mutter hatte mir geraten, ihm eine Flasche erstklassigen Gin zu besorgen; offensichtlich hatte sie damit richtig gelegen.
    Wir aßen Käse und Cracker und tauschten Familienklatsch aus, während auf der Straße unten Autos hupten und Bremsen quietschten. Carmi leerte sein Glas und verschwand in der Küche, um noch einen zu mixen; die zweite Runde schmeckte wie Napalm. Als er vorschlug, mir die Wohnung zu zeigen, stolperte ich hinter ihm her und gab mir Mühe, nicht allzu oft anzuecken.
    »Hey, zwei Betten ...«, bemerkte ich und bereute im selben Moment, dass mir das rausgerutscht war. Die Betten waren an die Wände geschoben und so tadellos wie Ausstellungsstücke gemacht. Ich wusste, dass Carmis Langzeitbeziehung vor kurzem verschieden war.
    »Sie sind wohl ein bisschen aus der Mode«, sagte er.
    »Unikate«, antwortete ich. »Nicht aus der Mode.«
    Aber Carmi hörte nicht mehr zu. »Man merkt es eigentlich nie, wenn man glücklich ist ...« Seine Stimme verebbte. Das weiche Licht der Straßenlaternen erhellte das Schlafzimmer.
    »Wie auch immer«, seufzte er und schlug die blau-weiß gestreifte Bettdecke zurück. »Ich glaub, ich leg mich aufs Ohr.« Das war mein Stichwort. Ich drückte seinen massigen Unterarm. »Danke für alles.«
    »Keine Ursache«, sagte er. Die Erinnerung an seine Liebe verschleierte seinen Blick.
    »Gute Nacht, Onkel Carmi.«
    »Gute Nacht, Alex«, gab er zurück. »Ich bin froh, dass du hier bist.«
    »Ich auch.«
    Als ich mich endlich jetlag-geschädigt und verkatert aus dem Bett wälzte, war Carmi fort. Es hatte begonnen zu schneien; zarte Kokosflocken schwebten in der Luft. Auf meinem Koffer fand ich eine Nachricht: »Bin eben frische Brötchen holen.« Das Wort »frisch« war unterstrichen -zweimal. Ich duschte, zog mich schnell an und brühte Kaffee auf. Als Carmi zurückkehrte folgte ihm das himmlische Aroma frischer Backwaren wie ein Schatten. Ich wünschte ihm so munter wie möglich einen guten Morgen und reichte ihm einen dampfenden Becher.
    Nach dem Frühstück setzte Carmi sich an seinen überquellenden Schreibtisch; er hatte noch eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen. Er sortierte Papiere, schrieb Schecks, führte mysteriöse Telefongespräche und räumte auf. Ich versuchte, mich auf ein Kreuzworträtsel zu konzentrieren, das mir aber ein Level zu hoch war. Zwischen vereinzelten Geistesblitzen guckte ich aus dem Fenster. Der Himmel zeigte sich jetzt in gleichmäßigem Grau. Kalt sah es aus. Mir war nach einem Spaziergang.
    Das wollte ich Carmi gerade vorschlagen, als er über die Schulter blickte und mich vorwurfsvoll ansah. »Louis war heute Morgen nicht auf seinem Posten, Alex.« Er schüttelte den Kopf. Louis war einer der Portiers. Carmi hatte ihn »Louis, der Chinamann« getauft-wegen seiner schräg stehenden

Weitere Kostenlose Bücher