alle luegen
sizilianischen Augen. »Wenn das noch mal passieren sollte, während ich weg bin, ruf bitte die Hausverwaltung an. Die Nummer liegt hier auf dem Tisch.« Er schwang sich auf dem Stuhl herum, der unter seinem Gewicht ächzte, und zeigte auf mich. »Schließ die Tür immer zweimal ab und leg die Kette vor«, sagte er. »Versprich mir das...«
Ich versprach es. Carmi lächelte und machte sich wieder an seine geheimnisvolle Arbeit. Ich dachte an all die idiotischen Sachen, die ich in der Vergangenheit gemacht hatte; Onkel Carmi hätte einen Herzanfall bekommen, wenn er davon gewusst hätte. Ich war per Anhalter gefahren, hatte mir Schlafwagenabteile mit notgeilen Italienern geteilt und in dreckigen Bahnhöfen übernachtet. Aber davon wusste niemand. Riesige Augen und ein breites Zahnpastalächeln täuschen über so einiges hinweg. Ein pakistanischer Handleser hatte mir mal gesagt, dass meine glatte Stirn auf ein Leben in rechtschaffener Aufrichtigkeit hindeutete. Bislang hatte mir noch jeder abgenommen, dass das stimmte.
Carmi ging - im weißen Leinenanzug, einen Strohhut auf dem Kopf und einen abgewetzten Lederkoffer in der Hand. Er erinnerte mich an Aschenbach aus Tod in Venedig. Zum Abschied umarmte er mich; seine Wangen rochen nach frischen Limetten. Er wünschte mir viel Spaß, was mich überraschte. Plötzlich kam er mir verändert vor - als hätte ein anderer vom Körper meines Onkels Besitz ergriffen. Sobald er weg war, schnappte ich mir ein Buch, warf mich auf die Couch und ließ mir von den letzten blassen Sonnenstrahlen das Gesicht wärmen. Wie eine satte Katze verdöste ich die nächste Stunde. Als ich wieder aufwachte, dämmerte es bereits.
Carmi hatte mir einen eselsohrigen Stadtführer mit zahlreichen Randnotizen dagelassen. »Geh zu DAg, nie zum Korea-Markt, Preise sind Frechheit, Waschsalon auf der 8 th, Spaziergang lohnt« und so weiter. Ich sah mir die Gegend auf den Karten an. Neben dem Village hatte er in Rot »Nicht hingehen - ganz übel!« notiert. Ich las den begleitenden Text: »St. Marks ist die erregende Flaniermeile einer rückschrittlichen Boheme.« Was immer das bedeuten sollte. Neben dem U-Bahnplan hatte er in Großbuchstaben geschrieben: »NIEMALS U-BAHN FAHREN. GEFÄHRLICH. LIEBER DEN BUS NEHMEN. Siehe Seite 13.« Da mir bisher nie etwas nur annähernd Bedrohliches passiert war, nahm ich an, dass ich Carmis Regeln sehr bald schon vergessen haben würde. Trotzdem war es witzig, sie zu lesen.
Mein Vater hatte mir erzählt, dass Onkel Carmi schon dreimal überfallen worden war, was seine Paranoia erklärte. Er war die meiste Zeit seines Lebens Kameramann bei CBS gewesen, ein Beruf mit wahrlich unchristlichen Arbeitszeiten. Unsere Familie stufte ihn als harmlos exzentrisch ein. Man wusste so gut wie nichts über sein Privatleben, außer, dass er lange Jahre mit ein und derselben Person zusammengelebt hatte und Puerto Rico liebte. Meine Großmutter pflegte ihn als »lieben Verwandten« zu bezeichnen - vor allem deshalb, weil er zu Geburtstagen und Jubiläen immer Geld schickte. Seine Geschenke trafen stets als Erstes ein und waren zudem großzügiger bemessen als die der anderen. Bisher hatte ich insgesamt zwei Wochen bei ihm verbracht - und da war ich zehn gewesen. Ich konnte mich nicht mehr besonders gut an diesen Besuch erinnern, wusste allerdings noch genau, dass ich ihm den ganzen
Teppich voll gekotzt hatte, nachdem ich in Little Italy ein paar Calamares zu viel gegessen hatte.
Ich schaute mich in Carmis Küche um. Ich spähte in den winzigen Kühlschrank, betrachtete das koscher eingelegte Gemüse, die sechs Sorten Senf, die Sardinen in Öl und das braune Apotheker-Glas mit Aloe. Dann wühlte ich in den Küchenschränken. Sie waren voll gestopft mit Dosenbohnen und Tütensuppen. Ich schloss die Schränke wieder. Ich hatte nicht die Absicht, Carmis Vorräte zu plündern. Er kam mir inzwischen vor wie ein für den Weltuntergang hortender Mormone. Neben dem Kühlschrank entdeckte ich ein paar Farbmuster in verschiedenen Weißtönen, die an die Wand gepinnt waren. Wollte Carmi sich neu einrichten? Er schien mir nicht der Typ dafür.
Ich brach direkt eins von Carmis Gesetzen, indem ich mich auf den Weg zu dem Korea-Markt an der Ecke machte. Carmi hatte Recht gehabt: Er war teuer. Aber auch schön nah. Ich lief zurück zu seinem Haus, während der Wind mein Gesicht wie ein raues Handtuch malträtierte. Vielleicht lag es an der neuen Umgebung oder daran, dass Carmis Paranoia auf mich
Weitere Kostenlose Bücher