'Alle meine Kinder'
Fußball und flochten sich gegenseitig die Haare. Da war der vertraute säuerliche Geruch von injera , das in der Küche neben dem Haus zubereitet wurde. Manchen Kindern begannen jedoch die Haare auszugehen, andere waren beängstigend dünn, wieder andere hatten entzündete Stellen im Gesicht. Hier fanden sich die jüngsten Opfer der Kollision eines Kontinents mit HIV/Aids ein: Sie hatten ihre Väter und Mütter und Brüder und Schwestern verloren, und jetzt waren sie selbst erkrankt, und alle, bis auf die Kleinsten, wussten, was das bedeutete.
Im Jahr 2001 besuchte ich das Enat-Haus zum ersten Mal. Eine junge Betreuerin in einem Schwesternkittel und mit einem Baumwolltuch um den Kopf rief die Kinder im Esszimmer zusammen. Die Kinder - von denen das älteste vielleicht sieben oder acht Jahre alt war - rannten zu ihren Plätzen an den Tischen in dem sonnigen, frisch gefegten Raum. Das Wasser in einer Glasvase mit einem Strauß Blumen warf Reflexe auf die Tischplatte. Die Kinder, die allesamt vom Land kamen, hatten noch nie Scheren gesehen und streckten der Lehrerin eifrig die Hände entgegen, als sie die knallbunten Plastikscheren verteilte. Ja, es waren genug für alle da, die Christ Lutheran Church of Forest Hill im amerikanischen Pennsylvania hatte genug Scheren mit den anderen Spenden mitgeschickt. Die Kinder produzierten eine wahre Lawine an Papierschnipseln, als sie den Anweisungen der Lehrerin folgend versuchten, Schneeflocken auszuschneiden (Schnee hatten sie auch noch nie gesehen).
Die kräftige kleine Ester war mit ihrem heiseren, tiefen Lachen und der dröhnenden Stimme eine Miniaturausgabe von Ethel Merman oder Ella Fitzgerald. Beim Schneiden stahl sich ihre Zunge aus einem Mundwinkel hervor. Die Kinder hielten ihre windschiefen Ergebnisse in die Luft und quietschten vor Überraschung laut auf. Die Lehrerin lobte sie und befestigte die Schneeflocken an der unverputzten Wand, die einzige Schneelandschaft, deren sich diese Stadt wohl je erfreuen wird.
Später besuchte ich die Musikstunde, in der die Kinder sich unter der Anleitung eines Gitarre spielenden jungen Mannes in den Hüften wiegten und im Hof herumhüpften. Ester sang dazu und wackelte dabei mit ihrem kleinen dicken Hintern. Eyob war ein hübscher Junge mit hoffnungsvoller, fragender Miene. Die weite braune Hose, in die er sein Polohemd gesteckt hatte, wurde in der Taille mit einem Gürtel zusammengehalten. Er bewegte sich mit der lässigen Sicherheit eines afroamerikanischen Stepptänzers aus den zwanziger Jahren und schwang die Arme im Takt der Musik. Er hatte den Dreh raus, zögerte jedes Klatschen und Aufstampfen bis zum letzten Moment hinaus, ohne je aus dem Takt zu kommen; er erfand den Swing noch einmal neu.
Aber Eyob und Ester konnten nicht in die Schule gehen. Wegen seines Gesundheitszustandes konnte keines der HIV-positiven Kinder in die Schule gehen, und so unterrichtete das Personal dieses ärmlichen Waisenhauses - Gizaw und seine Frau, Tsedie, und die Betreuerinnen - die Kinder selbst.
Tsedie, eine würdevolle Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem bitteren Lächeln, sagte: »Wir wollen, dass die Kinder das Leben genießen, dass sie etwas vom Leben haben.«
»Wir haben Aids, deswegen gehen wir nicht in die Schule«, sagten Kinder, die zu jung waren, um zu verstehen, was das bedeutete.
Es war nicht leicht, Leute zu finden, die in diesem Waisenhaus arbeiten wollten, erzählten Gizaw und Tsedie Haregewoin bei ihrem Besuch. Die Kinder waren doppelt stigmatisiert: Ihre Eltern waren an HIV/Aids gestorben, und darüberhinaus waren sie selbst infiziert.
»Die Leute gehen mir aus dem Weg und meiner Frau und unseren Betreuerinnen auch«, sagte Gizaw, ein abgearbeiteter, hochgebildeter Mann in den Fünfzigern. »Sie sind überzeugt, dass wir auch positiv sind, nur weil wir uns um diese Kinder kümmern. Ich war kürzlich in einem Amt, und die Leute haben mit dem Finger auf mich gezeigt. Vor zwei Jahren hatte ich ein Gallenblasenproblem und ziemlich viel abgenommen. Da haben alle gesagt: ›Seht ihr! Das musste ja so kommen.‹«
Wenn ich fertig mit der Schule bin, möchte ich Mathematiklehrerin werden , schrieb ihre beste und älteste Schülerin, ein Mädchen namens Amelezewd. Sie hatte ein schmales, kluges Gesicht und ein ironisches Lächeln, hinter dem sich lange Schneidezähne verbargen. Zwei jüngere Brüder von ihr lebten ebenfalls im Waisenhaus und ein älterer draußen in der Stadt.
In unserem Land gibt es
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