'Alle meine Kinder'
nicht viele Pilotinnen, also werde ich vielleicht auch Pilotin , schrieb sie. Ich will schnell lernen, und ich will groß werden. Später einmal will ich im Haus meiner Familie wohnen. Ich will für meinen älteren Bruder eine Villa bauen und am Tor Blumen pflanzen, damit es hübsch aussieht. Ich will Kindern helfen, die wie ich keine Familie mehr haben. Ich werde ihnen sagen, dass ich bin wie sie und ihnen genauso helfen, wie Mami und Babi (Tsedie und Gizaw) mir helfen. Am allerliebsten lese ich Geschichtsbücher. Dann bin ich richtig glücklich.
Aber Eyob verlor büschelweise Haare. Genau wie Ester. Und es gab keine älteren Kinder im Haus, keine, die höhere Klassen besuchten, keine Jugendlichen. Nein, erklärte man Haregewoin, sie waren nicht auf einem Ausflug, und, nein, sie lebten nicht in einem anderen Haus. Ihre Abwesenheit warf einen grauenvollen Schatten auf das bunte Treiben der noch lebenden jüngeren Kinder. Das Fehlen von älteren Kindern war wie eine arktische Kaltfront, die im warmen Wind eines Spätherbsttages unheilvoll näher rückte.
Bei 90 Prozent der HIV-infizierten Kinder wird das Virus vor oder während der Geburt oder beim Stillen übertragen. Eine unbekannte Zahl wurde durch verunreinigte Nadeln und Transfusionen von nicht getestetem Blut infiziert und ein geringer Prozentsatz durch sexuellen Missbrauch durch HIV-infizierte Erwachsene.
Ungefähr ein Viertel der Kinder, die von HIV-positiven Müttern auf die Welt gebracht wurden, infizierten sich.
In Nordamerika und Europa hat man festgestellt, dass eine Dreifachkombinationstherapie ab der 28. Schwangerschaftswoche die Übertragungsrate von HIV auf das Kind um 98 Prozent reduzieren und auch die Mutter retten kann. Mithilfe von öffentlichen Gesundheitskampagnen, Beratung, Mutterschaftsvorsorge und Therapien mit antiretroviralen Medikamenten für HIV-infizierte Schwangere konnte in den USA die Übertragungsrate auf das Kind auf unter zwei Prozent gesenkt werden. 2002 betrug die Zahl von pädiatrischem Aids in den USA 92 Fälle.
2003 waren es 59.
Aber weniger als zehn Prozent der HIV-positiven Schwangeren in Afrika hatte Zugang zu diesen Medikamenten.
2003 betrug daher in Äthiopien die Zahl neuer pädiatrischer Aids-Fälle ungefähr 60 000.
Und die wenigen Frauen in Afrika, die Medikamente zum Schutz vor einer Mutter-Kind-Übertragung (PMTCT) erhielten, wurden nach der Geburt nicht weiterbehandelt. Mütter, die an PMTCT-Programmen teilnahmen, brachten mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht infizierte Kinder zur Welt, aber ebenfalls mit größerer Wahrscheinlich erkrankten und starben sie nach der Geburt, wenn die medikamentöse Behandlung abgebrochen wurde.
HIV/Aids bei Kindern nimmt normalerweise einen von zwei Verläufen. 80 Prozent der im Säuglingsalter infizierten Kinder sterben vor Erreichen des dritten Lebensjahres. Solche Kinder werden vielleicht niemals krabbeln, gehen oder sprechen können.
Von den übrigen 20 Prozent erleben einige ihren achten Geburtstag und eine winzige Minderheit feiert ihren elften Geburtstag und stirbt erst dann.
Gizaw wusste das. Er wusste auch, dass die hübsche Amelezewd, die ihn Babi (Großvater) nannte und glücklich war, wenn sie Geschichtsbücher lesen durfte, schon zehn Jahre alt war.
Gizaw sah mit seinen geröteten Augen und abgespannten Zügen so aus, als wäre er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen; er hatte schon für Dutzende von jungen Leben den Kampf gegen Aids angetreten, und jedes einzelne dieser Kinder war ihm aus den Armen gerissen worden. »Gerade erst hat uns wieder einer der kleinen Prinzen unseres Landes verlassen«, erzählte er Haregewoin von einem Achtjährigen, der zwei Nächte zuvor gestorben war. Der erste Hinweis, dass sich der Gesundheitszustand eines Kindes rapide verschlechterte, war für ihn, wenn es plötzlich nicht mehr bei den Spielen oder Übungen mitmachen wollte, die ihm zuvor Spaß bereitet hatten. Wenn ein Kind teilnahmslos am Rand saß, keine Lust mehr zum Zöpfchenflechten oder Völkerballspielen hatte und der Musiklehrerin aus dem Weg ging, war das ein schlechtes Zeichen. Die meisten Kinder hatten mit angesehen, wie ein oder beide Elternteile gestorben waren, und viele hatten auch schon Geschwister verloren. Wenn sie dann an sich selbst Symptome entdeckten - Kandidose in der Mundhöhle und im Rachen, das plötzliche Auftreten von Molluscum contagiosum um die Augen und die Lippen und/oder Diarrhö -, ahnten selbst die Fünfjährigen, welches
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