'Alle meine Kinder'
Schicksal ihrer harrte. Es bedeutete, dass sie bald in das rückwärtige Schlafzimmer kamen, dessen Tür stets geschlossen war. Dann würden alle ihre Besucher außer Gizaw - der sie noch immer umarmen und küssen und ihre Hand halten und mit ihnen singen würde - einen Gesichtsschutz und Gummihandschuhe tragen.
»Am Anfang verliert das Kind Gewicht«, sagte Gizaw, der früher in der Verwaltung von Unternehmen und für die Regierung gearbeitet hatte, also kein Mediziner war, aber dessen Erfahrung mit dem Aufbau von NGOs ihn dazu veranlasst hatte, dieses Waisenhaus zu eröffnen. »Das Kind bekommt Infektionen im Mund- und Rachenraum, und das Schlucken fällt ihm schwer. Es hört auf zu essen, leidet unter Diarrhö, Gelenkschmerzen, Ohrenschmerzen. Das kann fünf Monate, drei Monate, zwei Monate dauern. Das Kind bekommt Lungenentzündung, es hat die ersten Anfälle. Es spricht nicht darüber, aber es ist niedergeschlagen. Eines Tages will es nicht mehr auf dem Spielplatz spielen, dann will es nur noch dasitzen und gehalten werden.« Entzündungen im Gesicht, im Mund, Gürtelrose, Hautausschlag am ganzen Körper, geschwollene Drüsen - all das entstellt das Kind und verursacht ihm Schmerzen, wenn sich sein Leben dem Ende nähert.
»Wir haben keine Antiretrovirale. Wir wissen, dass im Westen die Kinder behandelt werden. Es fehlt unserem Staat an harter Währung, um Antiretrovirale kaufen zu können. Wir können die Lungenentzündung und die kleinen Infektionen bei den Kindern bekämpfen, aber das ist auch schon alles. Wir betreiben hier ein Sterbehospiz.« Er hielt inne und starrte auf den Boden. »Es ist schlimm, die Kinder sterben zu sehen.«
HIV-positive und aidsinfizierte Waisenkinder hatten sich höflich aufgereiht, um Haregewoin zu begrüßen. In den schönen und sorgsam ausgewählten Namen der Kinder lebte die Liebe ihrer Eltern weiter. Als jedes leise seinen Namen nannte, sah Haregewoin die Mütter und Väter vor sich, selbst die Ärmsten der Armen, wie sie ihre Köpfe über ein Neugeborenes beugten und überlegten, welchen besonderen, außergewöhnlichen Namen sie dem Kind geben konnten. Die meisten nichtbiblischen äthiopischen Namen haben eine konkrete Bedeutung; und die Namen dieser HIV-positiven Waisen schienen ganz besonders treffend zu sein.
Sie lernte Tidenek (Du bist wundervoll) kennen und Bizunesh (Aus dir wird etwas werden) und Asegdom (Vor dem die anderen niederknien).
Sie schüttelte Mekonnen (Die Würdenträgerin) die Hand und Zerabruk (Von heiliger Herkunft). Makeda (Die Schöne) war der Name der Königin von Saba gewesen, und auch einen kleinen Salomon gab es.
Tadelech bedeutete »Sie ist glücklich« und Zenash »berühmt«. Messaye hieß so viel wie »Du ähnelst mir« - die Freude einer Mutter oder eines Vaters war bei diesem Namen unübersehbar. In Etagegnehus reizendem »Ich habe eine Schwester!« war ein Augenblick des Glücks festgehalten, das Strahlen eines älteren Geschwisters über den Familienzuwachs.
Metekies weit verbreiteter Name dagegen sprach von der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, da seine bittersüße Bedeutung »Ersatzkind« war.
Tenagne hieß »Meine Gesundheit«, eine berührende, hoffnungsvolle Wahl in Anbetracht dessen, was folgte (Tenagne war inzwischen ein HIV-positives Waisenkind).
Allefnews Name war fast noch berührender: »Wir haben die schlimmsten Zeiten hinter uns.«
In einem rauflustigen kleinen Jungen sahen seine Eltern einen zukünftigen erfolgreichen Geschäftsmann: sein Name lautete Million .
In Zeiten der Pandemie bekam sein Name eine völlig andere Bedeutung.
Haregewoin fragte Gizaw, ob sie ihre HIV-positiven Kinder zu ihnen bringen dürfte.
»Es tut mir sehr leid, Waizero Haregewoin, aber wir haben keinen Platz für weitere Kinder, wie Sie sehen können«, erwiderte Gizaw höflich.
Auf jedes Kind in diesem Haus kamen 60 andere, die auf den Straßen des Viertels lebten und starben. Ein oder zwei Mal in der Woche trat Gizaw mit einem neuen Kind in den Armen durch das Tor des kleinen Waisenhauses.
Als sie wieder auf den Spielplatz durften, liefen zwei kleine Mädchen zu Gizaw, um ihm ein neues Kunststück beim Seilspringen vorzuführen. Ein paar Jungen kickten mit ihrem Fußball (zusammengeknüllte und mit einer Schnur umwickelte Plastiktüten) vor seinen Füßen herum, um ihn zum Mitspielen zu verführen. Er machte ein paar Täuschungsmanöver mit dem Ball und brachte die Jungen damit zum Lachen.
Als Gizaw mit den
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