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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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der Himmel klar war. Mit geröteten Augen rannte sie an den spielenden Kindern vorbei. Den Leichnam auf dem Schoß, rief sie beim kebele an. Man erklärte ihr, bei welchem Amt sie sich melden sollte und dass später am Tag jemand käme, um den Leichnam zu holen, vielleicht würde es auch bis morgen dauern (sie hatten alle Hände voll zu tun). Eine neue Welle der Übelkeit stieg in ihr auf und brachte sie zum Zittern, insgeheim befürchtete sie, dass man das Baby in ein Massengrab werfen würde. Und was sollte sie einen Tag lang mit der Leiche der Kleinen machen?
    »Ich muss zur Kirche«, erklärte sie dem Wachmann. Sie zog sich nicht einmal um, da sie nicht wusste, wo sie das tote Kind währenddessen lassen sollte, und es nicht einfach irgendwo ablegen wollte. Sie legte sich ein Tuch über den Kopf und ließ es über ihre Arme fallen, so dass das Baby darunter verborgen war, dann fuhr sie mit dem Taxi zur Kirche. Sie ging zu ihrem vertrauten - fast geliebten - Friedhof und veranlasste alles Nötige, damit das Baby eine orthodoxe Beerdigung bekam.
    Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit dem Baby gespielt oder ihm etwas vorgesungen hatte; sie konnte sich nicht erinnern, wann das todkranke Baby mit seinen dürren Gliedmaßen und dem knochigen Gesicht das letzte Mal gelächelt hatte.
     
    »Nein, bitte, das geht nicht, bitte«, rief sie entsetzt, als sie das Tor aufstieß und eine Frau vor sich sah, die mit einem abgemagerten, barfüßigen Jungen unbestimmten Alters und mit einem verschorften Gesicht auf sie wartete. Ausgezehrt von Aids, konnte er vier Jahre alt sein oder er konnte (wie sie mittlerweile wusste) ein zwergenhafter Siebenjähriger sein. »Bitte, ich kann nicht. Sie müssen ihn irgendwo anders hinbringen. Ich habe doch keine Medikamente!«
    Die junge Frau ließ die Hand des Jungen los und warf sich in den Staub, kroch zu Haregewoins Füßen, um sie zu küssen. Sie stieß wehklagende Laute aus, das Gesicht am Boden und die Hände wie zum Gebet erhoben.
    »Bitte, Gott, bitte!«, rief Haregewoin laut und fiel in die Klagen der Frau ein. »Sag mir, was ich tun soll!«
    Der alte Wachmann eilte Haregewoin mit grimmigem Gesicht zu Hilfe, bereit, die Besucherin zu verjagen. »Fort mit dir!«, wollte er schon rufen. »Geh deines Weges. Leute wie du werden Waizero Haregewoin noch umbringen!«
    Haregewoin wandte sich ab und bedeckte ihr Gesicht mit dem Tuch. »Nimm ihn.«
    »Was?«, rief der Wachmann und trat einen Schritt zurück.
    »Nimm das Kind«, sagte sie und ging zum Haus.
    »Und wo soll ich ein Plätzchen für ihn finden?«, rief er hinter Haregewoin her, denn auch er gehörte mittlerweile zu ihren Kritikern.
    »Lass ihn bei dir schlafen!«, rief sie mit scharfer Stimme zurück.
    Und sofort war er milder gestimmt.
    »Komm mit, Kleiner«, sagte er und nahm die Hand des verängstigten Jungen. »Ich frage mich, wie du wohl heißt.«

30
    Haregewoin machte sich auf die Suche nach einer Organisation, die sich auf die Betreuung von HIV-positiven Kindern spezialisiert hatte.
    Wenn sie Medikamente hätte, sähe alles ganz anders aus! Sie würde mit Freuden alle bei sich behalten, alle, die krank waren, und versuchen, sie zu heilen und großzuziehen.
    Aber ohne Medikamente war ihr Haus nicht mehr als eine Sterbestation.
    Für ihre Freunde war sie eine außergewöhnliche Frau, aber sie hatten ja auch nicht gesehen, wie Angst und Übelkeit sie erfasst hatten, als sie feststellen musste, dass in der Nacht ein Baby allein gestorben war, dass sie eine Ersatzmutter für todkranke Kinder war.
    Ende 2000 waren nach Angaben von UNAIDS seit Ausbruch der Epidemie 4,3 Millionen Kinder an Aids gestorben und 1,4 Millionen Kinder lebten mit Aids, fast alle in Afrika.
    In ganz Äthiopien gab es nur zwei Waisenhäuser für HIV-positive Kinder, die sich beide in Addis Abeba befanden, erfuhr Haregewoin. Das größere der beiden, das der Mutter-Teresa-Schwestern, war überfüllt; aber es gab noch ein kleineres ganz in der Nähe, das von einem Ehepaar geführt wurde. Sie fuhr hin, um die Leute kennenzulernen und zu sehen, wie die Kinder behandelt wurden, denn insgeheim hatte sie vor, zu fragen, ob sie ihre kranken Kinder zu ihnen bringen dürfe.
     
    Im Enat-Haus für HIV-positive Kinder (Enat heißt Mutter; später wurde es in AHOPE for Children umbenannt) drang von dem einfachen Spielplatz, der von einem Eukalyptus-Baum beschattet wurde, lautes Lachen und Geschrei herüber, die Kinder spielten Himmel und Hölle und

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