'Alle meine Kinder'
und kranke, hustende und keuchende, manchmal hungrig, manchmal mit einem Schrei aus einem Alptraum aufschreckend, manchmal die Betten mit Erbrochenem oder Durchfall beschmutzend. Es hätte mathematischer und medizinischer Genies bedurft, die mithilfe von Computern und Diagrammen und Tabellen die ideale Aufteilung der Zimmer und Betten errechneten, um die Übertragungsrate von Infektionen unter den Kindern zu verkleinern - statt zu erhöhen.
Es hätte eine ganz neue Art von Expertentum gebraucht, um die Übertragungsrate von Verzweiflung und Traumata zu verkleinern.
In der Zwischenzeit brachten Kindern im Schulalter gute Noten nach Hause und warteten schüchtern auf eine Gelegenheit, Haregewoin ihre Schulhefte zu zeigen. Sie lief kreuz und quer über den Hof, rief und klatschte in die Hände, scheuchte sie in die eine Richtung zum Abendessen und in die andere zum Beten. »Steckt das weg! Es wird nur schmutzig!«, rief sie, und sie steckten die Schulhefte weg.
Tariku, zweijähriger Junge. Mutter hat als Hausmädchen gearbeitet. Ist weggelaufen und hat das Kind zurückgelassen.
Miret, Mädchen, acht. Addis Abeba. Mutter an Aids und Tbc erkrankt, Vater gestorben.
Birakadu, zehn Jahre alter Junge, fünfte Klasse, Mutter und Vater gestorben.
Yimen, Mädchen, ein Jahr alt, ist ins Feuer gefallen, wurde ins Krankenhaus gebracht und dort zurückgelassen.
Jeden Abend rief Haregewoin die Kinder zum Nachtgebet zusammen. Sie setzten sich vor den schmalen Betten in Reihen auf den Boden und blickten nach vorn zu Haregewoin, die ihnen gegenüber auf einem Kinderstuhl saß. Dann rief sie Freiwillige auf, vorzutreten und ihre Lieblingsgebete und -lieder vorzutragen, einige aus der orthodoxen Kirche, einige aus der protestantischen Kirche. » Abbatachin-hoy « stimmten sie die Anrufung Gottes an. Die Kinderstimmen waren glockenhell. Wie schön manche singen, dachte sie; sie hatten viel in der Kirche gesungen.
Früher hatte sie sich lächelnd im Takt mitbewegt, hatte in die Hände geklatscht und mitgesungen, das gemeinsame Beten war der schönste Moment des Tages gewesen.
In letzter Zeit saß sie nur noch da, teilnahmslos und ausgelaugt. Ihre Mundwinkel hingen schlaff herunter. Sie war hungrig und erschöpft. Wenn die Kleinen kamen, weil sie ihr einen Gutenachtkuss geben wollten, saß sie mit ausdruckslosem Gesicht da; aber sie ließen sich nicht beirren und gaben ihr dennoch einen Kuss auf die Wange, bevor sie ins Bett hüpften. Sie blieb noch sitzen, in der Dunkelheit und der kühlen Nachtluft, selbst wenn die Kinder um sie herum schon alle in den Betten lagen; sie saß einfach nur da, mit leerem Kopf und leerem Magen.
32
Haregewoin hatte von der Epidemiologie von HIV/Aids in Äthiopien keine Ahnung. Sie wusste nicht, dass die Krankheit die Soldaten von der Front der Eritrea-Kriege nach Hause begleitet hatte. Sie wusste nicht, dass Gesundheitsexperten die Marschrouten der erschöpften Soldaten und ihres Gefolges über den Kontinent anhand des Auftretens von HIV und Aids nachvollziehen konnten. Sie wusste nichts von den Trends, die die Experten ausgemacht hatten.
Die Autoren von Global AIDS: Myths and Facts aus dem Jahr 2003 fassten die besonderen Gefahren von infektiösen Krankheiten zu Kriegszeiten zusammen: »Bewaffnete Konflikte rufen oft Wanderungsbewegungen großer Bevölkerungsteile hervor, zu denen ebenso Flüchtlingsströme wie Truppenverlegungen gehören. Solche Wanderungen haben sich als Verbreitungsfaktor von Infektionskrankheiten erwiesen, auch von Aids. Während eines Krieges führt die Konzentration von Soldaten, die häufig herumziehen und von ihren Familien und Partnern getrennt sind, zusammen mit der großen Armut unter Frauen zu einem die Prostitution fördernden Klima und zu einem erhöhten Risiko für HIV-Übertragungen. Die HIV-Infektionsraten unter den afrikanischen Streitkräften zählen zu den höchsten der Welt, zum Teil übersteigen sie 50 Prozent.«
Aber Haregewoin las keine Bücher. Sie kannte nur ein paar arme Seelen in ihrem Viertel.
Da war ein zurückhaltender, traurig dreinblickender Mann namens Getachew Yohaleshet, den man immer wieder in der Nähe von Haregewoins Hoftor stehen sah. Er war Anfang fünfzig. Er hatte einen Sohn und hoffte, dass Haregewoin dem Kleinen zu essen geben würde. Seufzend bat sie die beiden eines Tages bei strömendem Regen ins Haus; der Junge, Asresahegne, lief gleich zu den anderen Kindern, wobei er beim Laufen die schmuddelige Hose mit dem kaputten
Weitere Kostenlose Bücher