'Alle meine Kinder'
der Kaiser hatte seine Hand zu ihm ausgestreckt, der Kaiser hatte ihn gesegnet.
»Ist Ihr Sohn positiv?«, fragte Zewedu.
Getachew schüttelte den Kopf.
Und alles, was Haregewoin in ihrer Erschöpfung denken konnte, war, dass Getachews Sohn irgendwann bei ihr landen würde.
33
Henok, sechs Jahre alt, hielt Ausschau nach einer neuen Mutter. So wie ihn Haregewoin aufgenommen hatte, sollte ihn noch einmal jemand aufnehmen, das war jedenfalls sein Plan.
Er hatte nicht gebundene Frauen (Frauen, die kein Kind auf dem Rücken trugen) zu Besuch bei Haregewoin gesehen, und warum sollte nicht eine von ihnen seine Mutter, ganz allein seine Mutter werden, die sich ausschließlich und liebevoll um Henok kümmerte? Einige der Besucherinnen waren ein bisschen zu alt (Haregewoins Schwägerin Negede Tehaye Alemayhu); andere waren ein bisschen zu jung (Sara, die ehemalige College-Studentin); er hielt Ausschau nach der genau Richtigen.
Immer wenn Gäste erwartet wurden, drückte er sich in der Nähe der Haustür herum. Er steckte in einem pink- und türkisfarbenen Mädchenanorak, den offenbar jemand blind aus einem Kleiderstapel gezogen hatte, aber seinem würdevollen Auftreten, seinem ernsten, ruhigen Gesicht mit den runden Augen und den vollen Lippen konnte das nichts anhaben. Geduldig krempelte er die weiten Jackenärmel hoch, um seine Hände zu befreien.
Als ich das erste Mal in Haregewoins Hof aus dem Auto stieg, blitzte einen Moment lang Neugier in Henoks freundlichen Augen auf. Aus irgendeinem Grund verlor er jedoch rasch das Interesse an mir. Ich weiß nicht, ob es an meiner Hautfarbe lag, meinem Alter oder daran, dass ich ein Kind bei mir im Taxi hatte, jedenfalls war ich nicht die gewünschte Frau. Der junge Mann wusste ganz genau, was er wollte.
Obwohl ich nicht in Frage kam, begrüßte mich Henok jeden Tag höflich. Ich blieb immer stehen, um ihm die Hand in dem viel zu weiten pink- und türkisfarbenen Polyestersack zu schütteln. Manchmal konnte ich ihm ein kleines Lächeln entlocken, aber dann sah er gleich wieder an mir vorbei zum Tor, damit ihm auch ja nichts entging. Jede Minute konnte eine passendere Mutter vorbeikommen, und es wäre nicht nett gewesen, wenn ich Henok die Sicht versperrt hätte, und so trat ich beiseite.
Eines schönen Morgens vergnügten sich ein paar der kleineren Kinder um ihn herum mit einem Autokindersitz, den jemand gespendet hatte (wobei nur wenige Autos in Äthiopien Sicherheitsgurte hatten). Er stand vor dem Haus, ein wunderbares Spielzeug. Die Kinder nahmen abwechselnd wie auf einem Thron darauf Platz, setzten verkehrt herum Puppen darauf und versteckten Kieselsteine zwischen den Polstern. Die Kleinsten wackelten händchenhaltend in geheimnisvoller Mission davor auf und ab.
Immer wenn ein Auto vor dem Tor hupte, um Einlass zu erhalten, gerieten Spiel und Arbeit der Kinder durcheinander. Besonders wenn eine fremde Frau vorfuhr, machte sich eine Riesenaufregung breit. Eine einzelne Besucherin ließ darauf schließen - geradezu unfassbar -, dass es in der großen weiten Welt Mütter gab, auf die niemand Anspruch erhob.
Selbst Kinder, die keine Erinnerung an ihre eigenen Mütter hatten, verspürten eine plötzliche Leere in der Brust oder im Bauch. Verwirrt oder voller Vorfreude streckten sie die Arme in die Höhe, wenn eine Besucherin auftauchte. Die kleinen Jungen, die die ganze Zeit über glücklich den räderlosen Spielzeuglaster auf dem Kies hin und her geschoben hatten, fingen auf einmal an, sich darum zu zanken; und kleine Mädchen rannten plötzlich los und fielen hin, schürften sich Knie oder Handflächen an dem rissigen Beton auf und fingen an zu heulen. Daran, ob ein Kind laut weinte oder nicht, konnte man erkennen, wie lange es schon ohne Mutter war; ein zweijähriges Mädchen, das trotz seines geringen Alters schon lange ohne mütterliche Zuwendung gelebt hatte, weinte mit offenem Mund und einem Strom Tränen, aber ohne einen Laut von sich zu geben. Ein solches Kind hatte gelernt, dass lautes Weinen - das nur eine Mutter zum Verstummen bringen konnte - es in einen tiefen Abgrund führt und dort allein lässt und dass es allein den Weg zurück nach oben finden musste, die saubere Bluse tränenfleckig und sein Spielzeug in den Händen eines anderen Kindes.
Junge Mädchen eilten über den Hof, den Arm voll Geschirr oder Wäsche oder Babyfläschchen, eifrig bemüht, zu zeigen, wie nützlich sie sich machen konnten. Die Möglichkeiten, die ein verwaistes junges Mädchen in
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