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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Reißverschluss festhielt, die einmal einem Erwachsenen gehört hatte und die er jetzt Tag für Tag trug.
    Schüchtern betrat Getachew das Wohnzimmer. Er drehte fortwährend seine Mütze in den Händen, verbeugte sich vor den wenigen anderen Gästen und entblößte seine gelben Zähne zu einem grimassenhaften Lächeln, dann setzte er sich auf die Kante eines Stuhls, bereit, bei der geringsten Unmutsbekundung von Seiten eines der Anwesenden wieder zu verschwinden. Auf ein strenges Wort von Haregewoin hin wäre Getachew in den matschigen Hof geeilt, seine zerrissenen Schuhbänder hinter sich herziehend, hätte im Regen gestanden und mit einem traurigen, ergebenen Lächeln zum Haus gesehen.
    »Wie lautet deine Geschichte, Getachew?«, rief Zewedu träge durch den stickigen, dämmrigen Raum. Auch Selamneh und ich waren gekommen, um eine Kaffeepause zu machen. Wir wandten uns alle der traurigen Gestalt zu und bewiesen Getachew damit bereits mehr Respekt und Freundlichkeit, als er seit vielen Jahren erfahren hatte. Das machte ihn so nervös, dass er seine Tasse nicht ruhig halten konnte und Kaffee auf ein Bein seiner schmutzigen Hose schüttete.
    Er räusperte sich, sah bekümmert auf den großen nassen Fleck auf seiner Hose und begann zögernd zu sprechen, wobei er sich immer wieder unsicher fragte, ob er fortfahren sollte. Getachew war Weber - er hatte die Kunst des Webens von strapazierfähigen Wollschals, hauchzarten Tüchern, gemusterten dicken Vorhängen und schlichter Tisch- und Bettwäsche von seinem Vater und Großvater erlernt. Er war es gewohnt, zehn oder zwölf Stunden am Tag an seinem selbstgebauten hölzernen Webstuhl zu sitzen. Seine Produkte wurden auf dem Mercato, dem riesigen Markt von Addis Abeba, verkauft. Seine Familie wohnte in einem steinernen Haus, das auf einem blanken Erdhügel stand und von halb verfallenen Holzhütten umgeben war. Nach dem Tod seines Vaters lebten Getachews Mutter, seine ältere Schwester, der ältere Bruder und deren jeweiliger Anhang in diesem Haus. Getachew und seine geliebte Frau Shibarie und ihre drei Kinder hatten auch dort gewohnt.
    »Shibarie und ich sind zusammen aufgewachsen«, sagte er. »Sie war eine sehr gute Schülerin, und ich hatte die Schule abgebrochen, aber da ich gelernter Weber war, willigte sie ein, mich zu heiraten. Das Leben mit meiner Frau war sehr schön. Sie war mir eine sehr liebe Frau und unseren Kindern eine gute Mutter.«
    Getachew wurde unter der Regierung Mengistu in die Armee eingezogen, um in dem endlosen, zerstörerischen Grenzkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea zu kämpfen. Äthiopien hatte in den 1960er-Jahren Eritrea annektiert, und damit begann der dreißig Jahre währende Krieg, den Eritrea um seine Unabhängigkeit führte und schließlich auch gewann, allerdings unter Bedingungen, über die sich die beiden Regierungen weiterhin stritten und derentwegen sie ihre spärlichen Ressourcen in Waffenkäufe steckten und entsetzlich viele Menschen in den Tod schickten. »Ich kämpfte dreizehn Jahre in Eritrea«, erzählte Getachew. »Nach dreizehn Jahren wurde ich gefangen genommen. Drei Jahre lang war ich in Gefangenschaft. Ich arbeitete in dem Gefängnis als Weber. Sie haben uns nicht genug zu essen und nicht genug Kleider gegeben. Wir verhungerten beinahe.
    Als die Berliner Mauer fiel, ließen sie uns frei. Wir waren um die zehntausend und mussten nach Hause laufen. Drei Monate und zwei Wochen waren wir unterwegs, bis wir den Fluss Mereb erreichten, die Grenze zu Äthiopien. Als ich endlich zu Hause ankam, war ich in schlechter Verfassung. Ich kehrte zum Haus meiner Mutter zurück und erfuhr, dass Shibarie gestorben war und unsere drei Kinder zurückgelassen hatte. Die Armee hatte ihr mitgeteilt, ich wäre tot. Sie bekam Witwenrente, bis sie starb. Ich habe sehr lange getrauert. Sie war mir nicht nur eine Ehefrau, sondern auch Mutter und Schwester gewesen. Mir ging es damals sehr schlecht. Ich wusste nicht, wie ich ohne Shibarie leben sollte.«
    Mit zitternder Hand stellte er die Tasse zurück auf das Tablett und bedankte sich bei Sara für den Kaffee. Den Blicken der anderen Anwesenden ausweichend, sah er vor sich auf den Boden, als er weitersprach.
    »Einige Jahre später heiratete ich eine sehr nette Frau namens Ayanechew; sie half mir, meine drei Kinder großzuziehen - und wir bekamen unseren kleinen Sohn.«
    Hier wollte er seinen Bericht abbrechen. Nach einem Moment hob er den Blick und stellte fest, dass Haregewoin, Selamneh, Zewedu

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