'Alle meine Kinder'
und ich ihn noch immer ansahen. Erwarteten wir ein Geständnis, war es nötig?
Nervös lächelnd sagte er: »Als ich in Eritrea bei der Armee war, durften wir nach fünf Jahren einmal ausgehen und uns ein bisschen amüsieren.
Ich glaube, da ist es passiert.«
Mit gesenktem Kopf wartete er darauf, dass ihn jemand anbrüllte oder den Stock gegen ihn erhob. Als nichts passierte, fuhr er fort: »Die Ehe mit meiner zweiten Frau war gut, aber ich war schwach, fühlte mich krank. Ich ging zum kebele und bat um ein Schreiben und fünfzig Birr, damit ich in einem Krankenhaus einen HIV-Test machen lassen konnte. Als ich das Ergebnis erfuhr, brach ich beinahe zusammen. Als ich nach Hause zurückkam, sagte ich meiner Frau, sie soll auch einen Test machen lassen - sie war auch krank. Meine Familie jagte sie aus dem Haus, weil sie positiv war. Sie ging zurück zu ihrer Familie. Ich folgte ihr und blieb bei ihr, bis sie vor vier Jahren starb.
Als ich mit meinem Sohn in das Haus meiner Familie zurückkehrte, wollten sie mich nicht aufnehmen. Sie jagten mich fort. Meine Mutter glaubt, dass sie durch den Kontakt mit mir krank wird. Sie tut so, als würde sie mich und meinen Sohn nicht kennen.
Ich ging zum kebele und erzählte, was passiert war, und das kebele sagte meiner Mutter, dass sie mich nicht hinauswerfen darf. Deshalb hat meine Mutter ihrem Diener aufgetragen, dass er für mich eine Hütte aus Lehm und Stroh hinter dem Haus bauen soll, und dort wohne ich jetzt mit meinem jüngsten Sohn. Ich lebe auf dem Grund meiner eigenen Familie wie ein Obdachloser. Ihnen wäre es am liebsten, wenn ich verschwinden würde. Sie schämen sich für mich. Ich habe nichts. Meine Mutter empfindet nichts für mich. ›Du bist schon lange tot‹, hat sie zu mir gesagt. ›Wir brauchen dich nicht.‹ Wenn wir uns auf der Straße begegnen, grüßt sie mich manchmal, aber nicht wie eine Mutter. Meine Schwester und mein Bruder sprechen nicht mit mir. Sie laden meinen Sohn nicht in ihr Haus ein. Sie sind nicht nett zu ihm. Die Kinder meiner Schwester und meines Bruders machen sich über meinen Sohn lustig, dabei ist er ihr Cousin. Wenn ich auf die Latrine der Familie gehe, dann schickt meine Schwester hinterher den Diener hinaus, damit er Asche darauf streut.«
Eine Zeitlang nippte jeder schweigend an seinem Kaffee. Gatechew, der auf einmal Mut fasste, nachdem er festgestellt hatte, dass er als Einziger für Unterhaltung sorgte, sagte: »Ich habe Kaiser Haile Selassie kennengelernt.«
Wir sahen ihn alle überrascht an.
»Shibarie und ich feierten eine riesige, wunderschöne Hochzeit. Ich war so glücklich! Ich hatte einen neuen Anzug an, und sie trug ein weißes Hochzeitskleid. Es gab eine sehr feierliche Trauung in der orthodoxen Kirche mit vielen Freunden und Verwandten. Als wir die Treppe vor der Kirche hinuntergingen, fuhr gerade der Kaiser in seinem großen Auto mit seinem Gefolge die Straße entlang. Er liebte Hochzeiten. Er ließ seinen Fahrer anhalten und stieg aus und winkte uns zu sich. Meine Frau und ich liefen über die Straße und knieten uns vor ihn. Er trug seine herrschaftlichen Gewänder.«
Getachew lächelte in der Erinnerung an edlen Samt und feines Kalbsleder, goldene Epauletten und silberne Orden, edelsteinbesetzte Ringe und Schnallen. Bei der Erinnerung an Seine Majestät ging ein Leuchten von Gatechews müdem Gesicht aus. Die Leibgarde des Herrschers hatte die Menge zurückgehalten und nur Braut und Bräutigam erlaubt, sich dem Kaiser zu nähern. Selbst die Palastwachen, die mit ihren glänzenden Waffen in der Hand aus den Autos sprangen, hatten Getachew wohlwollend zugenickt.
»Er legte uns die Hände auf den Kopf und segnete uns und versprach uns ein glückliches Leben.« Dann war Gatechews Geschichte zu Ende, und er verstummte. Nach und nach verschwand das Leuchten von seinem Gesicht. Noch eine kurze Weile genoss er den Nachklang der Worte Haile Selassie und der Kaiser und Shibarie , bevor er sich wieder der trostlosen Wirklichkeit zuwandte.
Bald würde er mit seinem Sohn wieder zu der Hütte ohne Gas und Strom aufbrechen, an deren Wänden alte Zeitungen klebten, um die Kälte abzuhalten; sie würden auf einem Bett liegen, das aus einem mit Zeitungen gepolsterten Lehmsockel bestand. Aber diesen einen Schatz besaß er, diese Erinnerung an Rubine und Smaragde und Seide, die im Sonnenlicht dieses längst vergangenen Tages der schimmernden riesigen schwarzen Limousine Glanz verliehen; er war dem Göttlichen nahe gewesen,
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