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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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und sie seine nachsichtige Mutter. »Na? Heute wieder keine Lust, Wasihun?«, zwitscherte sie am nächsten Morgen. »Ich wette, ich kann hier im Haus einige Aufgaben für dich finden, die dich wünschen lassen, du wärst in der Schule.«
    »Wenn du meine Mutter wärst, dann würdest du mich zum Arzt bringen«, sagte er unter der Decke.
    Sie räumte im Zimmer herum und tat so, als hätte sie ihn nicht gehört.
    Er lag wieder still da, das Gesicht zur Wand gedreht.
    Die Geschichte wurde noch schlimmer.
    Zwei weitere Jungen wandten sich an Miniya.
    »Mit uns hat er dasselbe gemacht«, sagte einer.
    »Sirak?«, flüsterte sie.
    »Ja«, sagte der Vierzehnjährige. »Er hat mit uns geschlafen wie ein Mann mit seiner Frau.«
    »Er hat gesagt, dass wir nichts davon erzählen sollen, sonst würde er uns etwas antun«, sagte der Zwölfjährige.
    »Haregewoin, da sind noch zwei«, sagte Minya leise in der Abenddämmerung auf der Terrasse.
    O Gott, o Gott, wo soll das enden?
    »Ich hatte keine Ahnung«, zischte Haregewoin. »Wie hätte ich das denn wissen sollen? Ich wusste ja nicht einmal, dass es das gibt!«
    »Natürlich hast du das nicht wissen können«, sagte Miniya beruhigend. »Ich habe ja auch nichts davon gewusst.«
    Aber Miniya ließ es nicht dabei bewenden. »Die Frage ist nur, was wir jetzt tun sollen?«
    »Jetzt? Was soll man denn jetzt noch groß machen? Der Mann ist weg. Er wird sich nie mehr hier blicken lassen. Den Jungen kann nichts mehr passieren.«
    Miniya erwiderte nichts darauf, sondern presste nur die Lippen aufeinander. Sie presste sie auf eine Weise aufeinander, die Haregewoin sagte: Du weißt, dass es damit nicht erledigt ist. Du musst der Polizei sagen, was passiert ist. Du musst die drei Jungen zum Arzt bringen.
    Haregewoin sah Miniyas verkniffene Lippen, über die kein Wort kam, aber sie tat so, als würde sie nicht verstehen. Sie stand auf und rief den Kindern, die in der Einfahrt Völkerball spielten, zu: »Schlafenszeit! Macht euch fertig!«, und klatschte dabei in die Hände.
    Sie wusste, dass Miniya sie beobachtete und auf ein Zeichen des Einverständnisses von ihr wartete. Aber sie gab dieses Zeichen nicht. Damit setzen wir alles aufs Spiel , dachte sie. Wir werden alles verlieren. Wir werden alle Kinder verlieren, wenn das bekannt wird. Ich werde meine Lizenz und meinen guten Ruf verlieren. Man wird uns die Kinder wegnehmen. Sirak wird ins Gefängnis kommen. Warum sollten wir so viel Durcheinander und Leid verursachen?
    Am nächsten Tag sagte sie sich: Ich bin die Chefin, und das bin ich deshalb, weil ich stets bei allem an die Folgen denke. Sie will, dass ich wie ein kopfloses Huhn herumrenne und mit den Flügeln schlage. Aber wozu? Der Mann ist weg. Die Jungen sind in Sicherheit. Das ist es, was zählt. Wegen dieser einen Sache kann ich doch nicht alles, was ich aufgebaut habe, in Gefahr bringen.
    Miniya mied sie, wo es ging. Es war unerträglich für Haregewoin. Früher standen sie den ganzen Tag über mit verschränkten Armen da und plauderten und lachten, während sie auf die Kinder aufpassten.
    Daher platzte Haregewoin eines Nachmittags aus heiterem Himmel heraus: »Glaubst du nicht, dass die Polizei uns die Kinder wegnehmen wird, wenn ich mit dieser Geschichte, von der ich nicht einmal weiß, ob sie stimmt, zu ihnen gehe?« Sie sprach in flehendem Tonfall, appellierte an Miniyas weiches Herz, hoffte auf ihr Verständnis.
    »Dann geh nicht zur Polizei, aber geh wenigstens zum Arzt«, erwiderte Miniya. »Jeden Tag fragen mich die Jungen, warum du sie nicht zum Arzt bringst. Die Jungen haben Angst« - sie senkte ihre Stimme - »dass er sie mit HIV infiziert hat.«
    »Das ist doch lächerlich!«, schimpfte Haregewoin. »Ich will nichts mehr davon hören. Ich habe ein für alle Mal genug von dieser Geschichte. Es ist abscheulich und schrecklich, und es ist nicht gut, wenn die Kinder an so etwas denken. Es reicht, verstehst du? Du ermutigst sie noch, aber sie sollen damit aufhören. Warum kommen sie damit überhaupt zu dir und nicht zu mir?«
    »Sie sagen, dass du ihnen nicht hilfst.«
    »Du wiegelst sie auf. Du verzärtelst sie. Die beiden anderen, von denen du mir erzählt hast, gehen schließlich immer noch in die Schule und liegen nicht nur herum wie Wasihun.«
    »Dereje ist heute zu Hause geblieben.« Das war der Zwölfjährige.
    »Er ahmt nur Wasihun nach«, rief Haregewoin am Ende ihrer Geduld. »Schuld daran ist, dass wir Wasihun gegenüber zu nachsichtig waren. Du musst zu ihnen

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