Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
Vom Netzwerk:
auf«, flüsterten die grauen Lippen. »Er hat niemanden mehr. Bitte. Nehmen Sie ihn. Er ist ein guter Junge. Bitte. Nehmen Sie ihn.«
    Haregewoin hatte die kalten Hände der Frau umfasst. »Ja, natürlich, meine Liebe, ja, ich werde ihn nehmen.«
    Sirak hatte ihr Freude bereitet. Er war ein angenehmer, bescheidener junger Mann mit einem dicken braunen Haarschopf und einem dünnen Oberlippenbärtchen. Er hatte die Schule nur bis zur dritten Klasse besucht, aber er arbeitete schwer und war sehr bemüht. Er rauchte nicht, kaute kein chat (ein leichtes Halluzinogen) und trank nicht. Abends hörte sie ihn immer draußen mit den Wäschezubern hantieren. Er war glücklich hier. Er mochte die Kinder. Auf dem alten Hof hatte er in eine Decke gewickelt auf dem blanken Erdboden geschlafen. Hier hatten sie mehr Platz, und sie hatte ihm gesagt, er könne sich im Schlafraum der Jungen ein Bett aussuchen. Die Jungen schienen ihn zu mögen. Sie hätte niemals einen Mann in den Schlafraum der Mädchen gesteckt, aber es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie die Jungen dadurch in Gefahr bringen könnte. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass so etwas möglich war, hatte kaum jemals von so etwas gehört, wusste es nicht einmal zu benennen.
     
    »Was ist letzte Nacht passiert?«, fragte sie ihn.
    »Nichts, Waizero Haregewoin«, stotterte er. Er rang die Hände. Mehr hatte er nicht zu sagen.
    »Nein, es war nicht nichts. Sag mir, was passiert ist.«
    »Wasihun hat das nicht zum ersten Mal gemacht! Er hat mir erzählt, dass er das schon mal gemacht hat, da, wo er vorher war, hat er es schon mal gemacht.«
    Sie war wütend. »Ich habe dich nicht gefragt, was Wasihun gemacht hat. Ich habe dich gefragt, was du gemacht hast.«
    Er rang die Hände, er blickte gehetzt durch das Zimmer; er sah die anderen an, hoffte, einen aufmunternden Blick von seinen Kollegen zu erhaschen, aber alle wichen seinen flehenden Augen aus.
    »Sirak, du musst mir die Wahrheit sagen.«
    Er stand mit hilflosem Blick und offenem Mund vor ihr.
    »Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, muss ich die Polizei rufen.«
    Er blieb stumm. Sie setzte sich wieder und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus.
    In diesem Moment klappte er zusammen. Er sank auf die Knie, reckte die Arme gen Himmel und fing an, unverständliche Worte hervorzustoßen. Einige glaubten zu hören, wie er sagte: »Ich hab’s getan! Ich hab’s getan!« Andere erinnerten sich dagegen daran, dass er protestierte und rief: »Warum bringen Sie solche Schande über mich?«
    Er rappelte sich hoch, Tränen schossen ihm in die Augen, und er sank noch einmal auf die Knie. Er warf sich vor ihr auf den Boden, stand auf, schlenkerte wild mit den Armen und sank erneut mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.
    Alle waren entsetzt und wichen zurück. Er gebärdete sich, als hätte er einen Anfall. Plötzlich stand Sirak auf, seine Haare noch wirrer als sonst; er drehte sich hierhin und dorthin, völlig orientierungslos, dann entdeckte er die Tür und lief aus dem Zimmer. Er sprang die Treppe hinunter, rannte über den Hof, riss das Tor auf und eilte hinaus.
    Haregewoin stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Einige der Anwesenden atmeten hörbar aus. »Er wird nicht mehr zurückkommen«, erklärte Haregewoin. »Wenn er es versuchen sollte, darf ihn niemand hereinlassen. Aber er wird nicht zurückkommen.«
    »Wirst du die Polizei rufen?«, fragte Miniya. Sie arbeitete seit vier Jahren für Haregewoin und kannte sie schon aus früheren Zeiten, als Haregewoins Mann noch gelebt hatte. Miniya war in mittlerem Alter, hatte langes, dickes, glattes Haar, das sie zu einem Knoten geschlungen trug. Die Männerwolljacke, die sie anhatte, verbarg ihre ausladenden weiblichen Rundungen. Beim Gehen steckte sie die Hände in die Jackentaschen, und um ihren Hals hing eine Lesebrille an einer Kette; sie ließ sich von allen Helferinnen am wenigsten von Haregewoin einschüchtern, war die Einzige, die sich ihr als ebenbürtig empfand.
    »Warum?«, rief Haregewoin. »Er ist weg! Er ist weg, und das ist das Wichtigste!«
    »Aber die Polizei sollte Bescheid wissen.«
    Jetzt wurde Haregewoin wütend. »Er ist weg und damit Schluss. Sonst gibt es nur Gerede. Ich bitte euch alle, außerhalb dieser vier Wände nicht darüber zu sprechen. Wer weiß, ob überhaupt etwas passiert ist?«
    »Egal«, sagte Miniya, »ich finde trotzdem, dass die Behörden Bescheid wissen müssen, Haregewoin. Die Polizei soll den Fall

Weitere Kostenlose Bücher