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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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meinem Bett! Er hat wie mit einer Frau mit mir geschlafen!«
    Anklagend deutete er mit zitterndem Finger auf Sirak. Sirak, vierundzwanzig, stammte aus dem Viertel, in dem Haregewoin und die Kinder früher gewohnt hatten; er arbeitete für Haregewoin im Tausch gegen Essen und einen Platz zum Schlafen. Jetzt stand er zwischen den Betten, in T-Shirt und grauen Jogginghosen.
    »Er hat mein Gesicht festgehalten, und ich habe keine Luft mehr bekommen!« Wasihuns Gesicht begann anzuschwellen.
    Haregewoin setzte sich neben ihn und wollte ihn umarmen, aber Wasihun stieß sie heftig beiseite und schrie: »Er hat mir wehgetan!«
    Die Jungen im Zimmer setzten sich in ihren Betten auf; sie starrten zu ihnen herüber, und die kleineren fingen vor Angst an zu weinen. Im Säuglingszimmer im Haupthaus brachen die Babys in Geschrei aus. Das Licht im Schlafzimmer der älteren Mädchen zwischen dem Säuglingszimmer und Haregewoins Zimmer ging an. Verwirrt und durcheinander rannte Haregewoin zurück ins Haupthaus und kehrte mit zwei schreienden Babys auf dem Arm zurück zu den Jungen. Sirak stand wie erstarrt da, den Mund zum Protest geöffnet, die Hände zum Zeichen seiner Unschuld leicht vorgestreckt, aber er sagte nichts.
    Andere Jungen drängten sich um Wasihun, der sein Gesicht in den Armen vergraben hatte und laut schluchzte. Alle blickten auf Haregewoin.
    Ein Grüppchen älterer Mädchen - barfüßig, mit zerzausten Haaren und in Nachthemden - schauten zur Tür herein. Miniya, eine Betreuerin, die im Mädchenschlafzimmer auf einem Feldbett schlief, stand hinter ihnen im Hof.
    Wenigstens dieses Problem konnte Haregewoin lösen. »Ihr alle! Zurück ins Bett! Und zwar sofort!«, brüllte sie, und sie stoben davon.
    »Du auch«, sagte sie ernst zu ihrer Kollegin Miniya, und die Frau nickte und ging.
    »Warte«, rief Haregewoin ihr nach. »Nimm die beiden mit.« Sie reichte ihr die zwei weinenden Babys. Sie konnten das Heulen der anderen Babys aus dem Säuglingszimmer hören.
    »Beruhigt euch, beruhigt euch wieder«, sagte sie zu den Jungen. »Geht zurück in eure Betten. Alles ist in Ordnung, schlaft jetzt. Ich bin ja hier. Es war alles nur ein böser Traum. Geht wieder schlafen.«
    »Und was ist mit ihm!?«, schrie Wasihun und hob sein verschwollenes, tränennasses Gesicht von den Armen. »Es war kein böser Traum! Er hat mir wehgetan!«
    »Sirak wird heute Nacht draußen schlafen. Wir sollten jetzt alle wieder ins Bett gehen. Morgen früh werden wir reden. Morgen wird es uns besser gehen. Legt euch jetzt alle wieder hin. Es ist vorbei.« Die kleinen Jungen legten sich hin. Sirak drehte sich um und ging langsam hinaus. Haregewoin machte das Licht aus und lief hinüber ins Haupthaus. Im Säuglingszimmer waren sämtliche Babys wach, sie waren völlig verwirrt und nass und schrien wie am Spieß; die Älteren standen in ihren Gitterbetten und rüttelten an den Stäben. Miniya ging zwischen den Bettchen hin und her und versuchte, sie wieder hinzulegen. »Ich mach das schon«, sagte Haregewoin. »Bring mir nur bitte ein paar Fläschchen.«
    »Was war da los?«, fragte Miniya.
    »Nur ein böser Traum«, sagte Haregewoin.
    Sie brauchte zwei Stunden, um den Babys die Windeln zu wechseln, sie zu füttern und in den Schlaf zu wiegen. Dann schlief sie selbst auf einem Stuhl ein, ein Baby auf dem Schoß.
    Es dämmerte bereits.
     
    Am Morgen merkte sie, dass sie Angst hatte, über den Hof zu gehen und bei den Jungen hineinzusehen, Angst, dass Wasihun noch immer wach dalag und auf sie wartete, um sie mit verletzten, rot geweinten Augen anzusehen.
    Deswegen ging sie nur bis zur Treppe zum Schlafraum der Jungen und rief ihnen zu, sie sollten sich für die Schule fertig machen. Wasihun kam nicht heraus.
    Als die älteren Kinder weg waren, rief sie die Betreuerinnen zusammen. Alle hatten den Aufruhr in der Nacht mitbekommen, alle wussten von den Beschuldigungen. Sirak betrat ihr Zimmer und stellte sich mit dem Rücken an die Wand, hinter die anderen, so als ob auch er hier wäre, um zu hören, was Haregewoin zu sagen hatte.
    »Du«, sagte sie zu Sirak.
     
    Ein Jahr zuvor hatte Siraks aidskranke Mutter kurz vor ihrem Tod nach Haregewoin geschickt, die sie vom Sehen aus dem Viertel kannte. Die ehemalige Marktfrau konnte sich kaum mehr bewegen. Nur ihre Lippen bewegten sich, während Gesicht und Körper völlig erstarrt waren. Die Augen blickten an die Decke der Hütte. Haregewoin beugte sich tief zu ihr hinunter.
    »Passen Sie bitte auf meinen Sohn

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