'Alle meine Kinder'
untersuchen und die Wahrheit herausfinden.«
»Möchtest du etwa, dass ich meine Lizenz verliere? Dass das Heim geschlossen wird? Die Kinder weggebracht werden?« Haregewoin funkelte ihre Leute an. Sie schüttelten den Kopf, senkten den Blick. Nur Miniya sah ihr offen ins Gesicht.
»Gut«, fuhr Hargewoin sie an. »Dann war es das also. Schluss damit. Es gibt Wichtigeres als diesen Mann, über das wir uns den Kopf zerbrechen müssen. Wir wollen nie wieder über die Angelegenheit sprechen. Geht an die Arbeit.«
Miniya vergrub die Hände in den Jackentaschen und verließ mit nachdenklich gesenktem Kopf das Zimmer.
Sie konnte nachvollziehen, warum Haregewoin am liebsten so getan hätte, als wäre nichts vorgefallen. Vielleicht würde es ihr nicht anders gehen, wenn es ihre Organisation wäre, der öffentliche Schande und Verbot drohen, wenn es ihr Name wäre, der im Mittelpunkt eines Skandals stände. Dennoch war sie überzeugt (aus der Sicherheit der Anonymität heraus, der Sicherheit, nicht die Chefin zu sein), dass Haregewoin die Verantwortung für das, was passiert war, übernehmen und es melden sollte.
Haregewoin hatte noch nie davon gehört.
In einem Land, in dem Homosexualität kriminalisiert und mit Gefängnisstrafen belegt wird, findet das Leben von Schwulen nur im Verborgenen statt. Wie Haregewoin war die Mehrheit der Äthiopier der Ansicht, dass es in Äthiopien keine Homosexuellen gab, dass das eine typisch westliche Erscheinung war, eine Krankheit unter Weißen, die es hierzulande nicht gab.
Dabei hatte das Geschehen in Haregewoins Heim weniger mit Homosexualität unter Äthiopiern zu tun, als mit einem Verbrechen, einem Fall von Kindesmissbrauch.
Wenn Sirak eines ihrer Mädchen vergewaltigt hätte, wäre sie empört gewesen, sie hätte die Polizei gerufen und auf seine Verhaftung gedrungen. Aber das wäre etwas Normales gewesen, ein typisches Verbrechen, eine unglückliche Episode.
Siraks Verbrechen dagegen schien ein Verbrechen wider die Natur zu sein, ein Verbrechen, das so schrecklich war, dass man nicht darüber sprechen konnte. Der Ruf ihres Hauses wäre für immer ruiniert, wenn die Leute erführen, dass hier ein homosexueller Geschlechtsakt stattgefunden hatte. Sie war überzeugt, dass Sirak hingerichtet würde, wenn sein Verbrechen bekannt würde. Sie war überzeugt, dass sie öffentlich gebrandmarkt wäre und man ihr all ihre Kinder wegnehmen würde.
Als ihre Helfer an diesem Morgen ihr Zimmer verließen, zitterte sie am ganzen Leib. Sie hätte gern jemanden um Hilfe gebeten, aber es gab niemanden. Sie bebte so sehr, dass ihr schlecht wurde, als hätte sie die Seekrankheit.
Sie ging langsam zum Schlafraum der Jungen, und wie sie befürchtet hatte, war Wasihuns Bett nicht leer.
»Heute keine Schule, Wasihun?«, fragte sie gewollt munter.
Er hatte die Decke über den Kopf gezogen. Er lag auf der Seite, mit dem Gesicht zur Wand und antwortete nicht.
»Das ist in Ordnung«, sagte sie freundlich. »Bleib heute ruhig hier, das wird dir guttun. Morgen kannst du alles nachholen.«
Als sie keine Antwort erhielt, wurde ihr klar, dass sie einen zu unbeschwerten Ton angeschlagen hatte.
»Wasihun, mein Schatz«, versuchte sie es noch einmal mit sanfterer Stimme. Sie legte eine Hand auf seine Schulter. Wütend schüttelte er sie ab.
»Hast du Hunger?«
Er antwortete nicht.
»Soll dir der Koch ein bisschen Reis bringen?«
Er antwortete nicht.
»Wie... wie geht es dir?«
Mit leiser Stimme, die noch durch die Decke gedämpft wurde, sagte er: »Schlecht.«
»Hat dich Sirak wirklich angefasst?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt«, hörte sie die gedämpfte Stimme. »Ich hab dir doch gesagt, was er getan hat.«
»Hast du dich gewaschen?«
»Nein.«
»Ich hole dir Seife und ein Handtuch. Dann kannst du dich waschen.«
Das tat er.
Aber danach ging er gleich wieder ins Bett und wollte auch nicht mehr aufstehen. Als die Kinder aus der Schule kamen und sich um Wasihuns Bett versammelten, wollte er weder spielen noch mit ihnen reden. Er rührte sich unter der Decke nicht. Am späten Nachmittag stand er kurz auf, um aufs Klo zu gehen; Haregewoin lächelte ihm von einem Stuhl auf der Terrasse aus zu, aber er funkelte sie nur zornig an.
Was erwartet er bloß von mir?
»Er will zu einem Arzt. Er will, dass du ihn zum Arzt bringst«, sagte Miniya.
»In ein paar Tagen wird es ihm schon besser gehen«, sagte Haregewoin.
Sie sprach mit Wasihun in einem Ton, als wäre er ein Schulschwänzer
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