'Alle meine Kinder'
erleichtern. »Nach dir« und »Nein, nach dir« und »Vielen Dank« und »Darf ich dir noch etwas nachlegen?« und »Lass mich nur noch schnell das Schlafzimmer aufräumen, bevor wir gehen« und »Also, gute Nacht und träum schön!« Sie klangen wie tapfere Figuren aus einem englischen Film aus dem Zweiten Weltkrieg, die gute Stimmung verbreiten wollen.
Am fünften Tag, als sie es allmählich etwas ermüdend fanden, sich ständig gut zu benehmen, begann Meskerem aus sich herauszugehen. Sie deutete auf Robs Haare - widerspenstige dunkle Locken - und danach auf ihre eigenen widerspenstigen dunklen Locken und lachte, ein echtes, von Herzen kommendes Lachen. »Ich sehe aus wie du«, wollte sie damit sagen, und das fand sie lustig; ihr Lachen war ansteckend; und es war wirklich lustig, sie sahen sich wirklich ähnlich - der dichte Haarschopf, das schmale Gesicht, die dunklen Augenbrauen, die lange, schlanke Figur. Das Gelächter hielt eine unglaublich lange Zeit an - im Restaurant des Ghion, als die Teller abgeräumt wurden -, genau wie die erste Umarmung, und als es schließlich verebbte, schien es, als wären sie sich ein gutes Stück nähergekommen.
Rob begriff, dass seine frischgebackene Tochter Sinn für Humor hatte und er sie necken konnte. Er konnte im Aufzug auf den falschen Knopf drücken und beobachten, ob sie es merkte; er konnte ihr beim Abendessen einen Stuhl zurechtrücken und sich dann schnell selbst darauf setzen; er konnte auf dem Weg zum Taxi die Treppe vor dem Hotel mit ihr hinunterflitzen, sich auf den Beifahrersitz fallen lassen und »Gewonnen!« rufen. Sie stibitzte und versteckte seine Sachen im Hotelzimmer; tat so, als wollte sie ihm seinen Platz neben Claudia im Bett streitig machen; zog morgens seine Jacke an und gab vor, es nicht zu merken.
Nichts von dem, was sie unternahmen - die Ausflüge aufs Land, die Besuche von Museen und historischen Stätten -, hatte so viel Bedeutung wie die albernen Scherze und Neckereien zwischendurch. Claudia verdrehte pflichtschuldig die Augen, während Meskerem und Rob feststellten, dass sie sich nicht nur ähnlich sahen, sondern beide auch echte Komiker waren.
Eine Woche später bestiegen sie das Flugzeug. Als die Maschine beschleunigte und abhob, geriet Meskerem in Panik. Doch statt vor Angst zu weinen, wurde sie ganz still und schien in eine Art Trance zu fallen. Sie sagte kaum etwas und bewegte sich nicht mehr; sie wollte nichts essen. Rob und Claudia ließen sich erschöpft in ihre Sitze zurücksinken und zählten die Stunden, die es noch dauern würde, bis sie landeten und Eli aus dem Sommerlager abholen und ihm seine neue Schwester vorstellen konnten.
Mal vor sich hin dösend, mal einfach nur dasitzend, mal Distanz spürend, mal einander an den Händen haltend, begannen Claudia, Rob und Meskerem, auf der Weltkarte ihre eigenen bunten Bogen und Linien einzuzeichnen. Sie würden Kreise und Haken malen, Schleifen und Knäuel, und das auf eine Art, die sich kein Flugplaner oder Geograph jemals vorgestellt hatte.
52
Hinter der Bühne zittert ein sechsjähriges Mädchen in seinem rosa- und türkisfarbenen Gymnastikanzug. Sie ist die Fünfte in einer Reihe von acht Stepptanzschülerinnen der Carol Walker Dance Academy in einem Vorort von Atlanta, und das ist ihr erster Auftritt. Ihre Hände sind feucht, sie kann kaum schlucken, und ihr Knoten sitzt so straff, dass er sie in die Höhe zu ziehen scheint. Sie hört die Zuschauer im Gwinnett Cultural Arts Center applaudieren, als die vorherige Darbietung zu Ende ist; dann laufen die Mädchen mit geröteten Wangen an ihr vorbei in die Garderobe. Acht Monate lang hat sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet.
Sie klappert in ihren Steppschuhen über den polierten Bühnenboden und sieht sich einem verdunkelten Zuschauerraum gegenüber, aus dem nur das Rascheln von in Zellophan gehüllten Blumensträußen zu vernehmen ist. Irgendwo da unten sitzen ihre Eltern, ihr jüngerer Bruder, eine ihrer fürsorglichen Großmütter und ein halbes Dutzend Freunde der Familie. Im letzten Moment, bevor die Musik einsetzt, hebt Mekdes Hollinger, sechs Jahre alt, die sich einst gegen das Metalltor von Haregewoins Hof warf und vor Kummer im Staub wand, die Hand an den Mund und wirft ihrer Mutter eine Kusshand zu. Malaika »Mikki« Hollinger, teils afroamerikanischer, teils kreolischer Abstammung, hat versprochen, Mekdes’ Kuss aufzufangen.
Aus den Lautsprechern dröhnt der »Digga Tunnah Tanz« aus König der Löwen . Darin
Weitere Kostenlose Bücher