'Alle meine Kinder'
Adoptiveltern - insbesondere die zukünftigen Adoptiveltern eines älteren Kindes -, ob sie damit das Richtige für ihre Familie taten und ob sie die richtige Familie für dieses Kind waren. Sie fragten sich, ob Vermont der richtige Ort war, um ein äthiopisches Mädchen großzuziehen. Sie fragten sich, wie sie in Anbetracht ihres bisherigen Lebens in der Schule zurechtkommen würde im Vergleich zu den Söhnen und Töchtern von Professoren und Geschäftsleuten. Es stand alles auf dem Spiel, was ihnen lieb und teuer war: das Glück von Eli und Nick, das Glück der Familie.
Fast alle Adoptiveltern, die auf ein älteres Kind warten, hegen tief in ihrem Inneren die Bitte: Lass mich kein Kind nach Hause bringen, das beziehungsunfähig ist . In der Zwischenzeit mussten sie sich von allen Seiten Äußerungen des Erschreckens und des Erstaunens anhören, wurden mit Glückwünschen und Lob überschüttet. Wenn das Paar verkündet hätte, Claudia sei mit Vierlingen schwanger, wären die Reaktionen vermutlich ähnlich heftig ausgefallen.
Und auch wenn ihre Entscheidung nicht nachvollziehbar sein mochte, kam sie ihnen nicht falsch vor, also reichten sie die erforderlichen Unterlagen ein, packten Reisetaschen voll mit Sachen für das Waisenhaus, und im August 2004 erhoben sie sich in die Luft und flogen um die halbe Welt.
Es war nicht ganz genauso wie in der Nacht, in der sie ins Krankenhaus fuhren und Claudia mit Eli in den Wehen lag, aber ein bisschen schon.
Dann entspannten sie sich; es gab nichts mehr zu sagen. Die Zeit der Diskussionen und Überlegungen und Erklärungen war vorbei. Claudia schlief. Rob schloss die Augen, schlief aber nicht gleich ein, sondern gab sich noch einmal einen Moment lang dem Gefühl hin, in die Lüfte gehoben und über das dunkle Wasser getragen zu werden.
An einem gleißenden, brütend heißen Vormittag - die funkelnde Sonne an einem tiefblauen Himmel, Straßen voller Menschen, Esel, Ziegen und Schafe, im Wind flatternde Fahnen, Hunderte von aus Blech und Holz zusammengebaute Läden, die ihre Waren feilboten - fuhren sie mit dem Taxi zum Layla House und hupten vor dem Tor. Ein Wachmann öffnete ihnen.
Die Kinder erspähten sie auf dem Rücksitz des Taxis und flitzten los, liefen in alle Richtungen und riefen laut Meskerems Namen.
Bei ihrem ersten Besuch in Layla House hatte Claudia Meskerem nicht kennengelernt. Jetzt stieg sie zitternd aus dem Taxi und erwiderte unsicher die Begrüßungen der Kinder, die sich an sie erinnerten. Rob stand neben ihr, zwischen gespannter Erwartung, Furcht und Vorfreude hin und her gerissen. Gleich würde es passieren. Es war so weit.
Meskerem trat aus der Tür eines etwas weiter entfernten Gebäudes und wandte sich in ihre Richtung. Beide dachten sofort: »Sie ist genauso hübsch wie auf den Fotos.« Dicke lockige Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, eine große schlanke Gestalt, ein fein geschnittenes Gesicht und ein schüchternes Lächeln. Sie kam auf sie zu, den Blick abwechselnd auf sie und auf den Boden gerichtet; mit anmutigen Bewegungen lief sie quer über den Hof direkt auf sie zu (sie standen beide wie gelähmt da); sie legte Claudia die Arme um den Hals (sie war nur einen Kopf kleiner) und umarmte sie, wie diese noch niemals umarmt worden war: eine feste, dankbare und liebevolle Umarmung, eine Umarmung, die so lange dauerte, dass Rob (der sie beide überragte) sich nach unten beugte, um daran teilzuhaben. Sie hielten einander lange umschlungen. Die gleißende Sonne schob sich ein kleines Stück weiter über den Himmel, der Winkel, in dem ihre Strahlen von Stoßstangen und Armbanduhren und Fenstergriffen rund um den Hof reflektiert wurden, veränderte sich; sie hielten einander umarmt, während Unterrichtswechsel war und Kinder um sie herumtanzten und wieder davonliefen; sie hielten sich so lange umarmt, dass sie Meere und Kontinente überwunden hatten, sich einander versichert und einander gefunden hatten, als sie sich schließlich losließen.
Die ersten vierundzwanzig Stunden sprach Meskerem nur mit ganz leiser Stimme mit ihnen, aber als der Taxifahrer sie auf Amharisch aufforderte einzusteigen, strahlte sie übers ganze Gesicht und nickte; sie setzte sich auf den Rücksitz neben Claudia und hielt Claudias Hand und sah sie während der ganzen Fahrt mit einem schüchternen Lächeln an. Sie checkte mit den Cooper-Cohens in dem von Äthiopiern geführten Ghion Hotel ein, als wäre ein Hotelaufenthalt etwas Alltägliches für
Weitere Kostenlose Bücher