'Alle meine Kinder'
ist nicht wahr. Wenn er Metallica auflegt, dann fällt es mir notgedrungen wieder ein.
Eine vielversprechende Zukunft, zwei Autos, ein Haus mit zwei Kinderzimmern. Erst wurde die eine Freundin schwanger, dann die andere, bei den Abendessen nippten immer einige der Frauen an einem Glas Milch statt an französischem Wein. Wenn Freunde erwartungsvoll fragten: »Und was ist mit euch beiden?«, dann sahen Mikki und Ryan einander an, lächelten und zuckten die Schultern. Sie wurde nicht schwanger. Die Ärzte fanden keinen Grund dafür, aber es passierte einfach nicht.
Sie beschlossen, sich in Übersee nach einem Baby umzusehen. Oder vielleicht nach einem Baby und einem älteren Geschwister? »In Ordnung, zwei, vorausgesetzt, dass eines davon aus den Windeln heraus ist«, beschlossen sie.
Im Spätsommer 2003 meldeten sie sich bei AAI an und erhielten von da an den monatlichen Newsletter und hin und wieder ein Video von Kindern, die in Waisenhäusern in Thailand und Äthiopien aufwuchsen.
Am 24. Dezember 2003 brachte die Post wieder einmal ein Video von AAI. Sie hatten Besuch von Mikkis Eltern aus New Orleans, deshalb verstaute Mikki das Video in ihrer Nachttischschublade und sagte nichts davon. Um halb fünf Uhr morgens am ersten Weihnachtstag rüttelte Ryan sie wach und flüsterte: »Lass es uns ansehen!« Sie schlichen sich am Gästezimmer vorbei ins Wohnzimmer und schoben das Band in den Videorekorder. Die ersten Kinder, die sie zu sehen bekamen, waren Mekdes und Yabsira Asnake: ein trauriges Mädchen in einem zerrissenen blauen Kleid, und ein fröhlicher Junge in einem rosafarbenen Mädchen-T-Shirt.
Sie spulten das Band zurück und sahen sich die beiden noch einmal an. Das war das dritte Video, das sie von AAI bekommen hatten; der Anblick von Dutzenden von Kindern hatte sie gerührt, aber nie so sehr wie jetzt. Sie spulten erneut zurück und sahen es sich noch mal an, rückten näher heran. Sie spulten das Band zurück, sahen es sich an, rückten näher, spulten es zurück und sahen es an und rückten näher, bis die Bilder der Kinder groß und verschwommen vor ihnen standen und in eine strahlende Zukunft wiesen. Mikki und Ryan schlichen auf Zehenspitzen zurück in ihr Schlafzimmer und redeten bis zum Morgengrauen. Irgendwann stand Mikki auf, um den Computer einzuschalten und eine E-Mail an AAI zu schicken. »Wir möchten Mekdes und Yabsira Asnake adoptieren.«
Den künftigen Großeltern erzählten sie nichts davon, aber den ganzen ersten Weihnachtstag lang strahlten die beiden bei der Vorstellung, sich über Nacht in werdende Eltern verwandelt zu haben.
Am 26. Dezember lief Mikki mit ihrem Handy ein Stück die Straße hinunter und rief bei AAI an. Man bat sie zu warten, während die Akte der Kinder herausgesucht wurde. »Tut mir sehr leid«, sagte jemand von AAI. »Für Mekdes und Yabsira ist bereits eine Familie gefunden worden.«
»Was?«, rief Mikki. »Das ist doch nicht möglich!«
»Haben Sie auf dem Video noch ein anderes Kind gesehen, das Ihnen gefällt?«
»Wir haben uns sonst niemanden angesehen«, erwiderte Mikki leise.
Sie begriff, dass es dumm gewesen war, sich in Kinder auf einem Video zu verlieben, aber sie hatten es getan.
Am 7. Januar 2004 rief AAI bei ihnen an. »Interessieren Sie sich immer noch für Mekdes und Yabsira? Die andere Familie hat sich entschlossen, doch nur ein Kind zu adoptieren, und wir wollen die Geschwister nicht trennen.«
Als im August 2004 Mekdes, seit geraumer Zeit in Wartestellung, das Taxi auf den Hof des Waisenhauses in Addis Abeba einbiegen sah, rannte sie los. Sie warf sich in Mikkis Arme. Yabsira trottete zu Ryan, musterte den großen Mann von oben bis unten und streckte die Arme aus, um sich hochnehmen zu lassen. Von den luftigen Höhen des Arms seines neuen Vaters lächelte er huldvoll auf die anderen Kinder hinunter. Später in Amerika, nachdem Mekdes begonnen hatte, Englisch zu lernen, erinnerte sie sich: »Der erste Tag? Mommy sieht aus wie äthiopische Mommy. Daddy sieht nicht aus wie äthiopischer Daddy.«
Die Hollingers überreichten Mekdes eine Puppe und Yabsira einen Hokey-Pokey-Hamster, ein batteriebetriebenes, zwanzig Zentimeter großes Stofftier, das in hohen digitalisierten Tönen »Sag einfach Hokuspokus und dreh dich im Kreis, das ist das ganze Geheimnis« quäkte und dabei mit den Armen wedelte und auf und ab hüpfte.
So etwas Komisches hatte man in dem Waisenhaus noch nie zu Gesicht bekommen. Aus allen Ecken kamen die Kinder angerannt, um
Weitere Kostenlose Bücher