'Alle meine Kinder'
sitzen; sie fütterte ihn mit dem Löffel, sie stellte ihm Bill vor. Langsam begann sich der kleine Junge ihr gegenüber zu öffnen, aber er geriet immer noch jedes Mal in Panik, wenn seine Mutter das Krankenzimmer betrat. Schließlich wurde die Frau verhaftet. Karen sagte in dem Prozess aus. Eines Abends kam sie nach Hause und erzählte verbittert: »Man hat sie zu neun Monaten verurteilt, mit Freigang, damit sie weiterhin Klavierunterricht geben kann.«
Bill und Karen bewarben sich als Pflegeeltern für den kleinen Jungen, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Sie wollten ihn adoptieren, sobald seiner Mutter das Sorgerecht entzogen war, und der für den Jungen zuständige Sozialarbeiter unterstützte ihre Bemühungen.
Der Richter schickte Samuail zurück zu seinen Verwandten, damit die Familie »nicht zerstört wird«. Das Sorgerecht wurde der Tante mütterlicherseits übertragen.
Die Cheneys hatten Angst um den Jungen und waren zutiefst enttäuscht.
Als sie nach der Gerichtsverhandlung nach Hause kamen, sagte Bill: »Schluss damit. Bitte mich nie mehr, so etwas zu tun.«
Ich hatte geglaubt, Gott will, dass ich diesen Jungen adoptiere , dachte Karen. Ich kann Gott nicht mehr vertrauen.
Nach einiger Zeit dachte sie: Ich habe irgendetwas falsch verstanden.
Wieder einige Zeit fiel ihr die Geschichte von Moses ein, der zu Gott sagte: Du willst mich nicht .
Und Gott sagte: Doch, ich will dich.
»Ich glaube, irgendwo da draußen gibt es ein anderes Kind für uns«, sagte sie vorsichtig zu Bill.
Er sagte: »Vergiss es.«
Sie informierte sich trotzdem über Adoptionen aus dem Ausland. Sie stieß auf Americans for African Adoptions in Indianapolis, die Kinder aus Äthiopien vermittelten. Erneut brachte sie das Thema Bill gegenüber zur Sprache.
Er sagte: »Ich will das nicht noch einmal durchmachen.«
»Dieses Mal wäre es etwas anderes«, sagte sie. »Das Kind wäre unseres. Keiner könnte es uns wegnehmen. Bitte, denk darüber nach.«
Er schüttelte den Kopf.
Im Stillen dachte er an sein Alter: Mit vierundvierzig noch mal Vater werden? Nein, kommt nicht in Frage.
In der Kirche begannen ihm adoptierte Kinder aufzufallen. Er fragte andere Gemeindemitglieder, wie alt sie zum Zeitpunkt der Adoption gewesen waren, und einige von ihnen sagten: »Anfang vierzig.«
»Na gut«, sagte Bill eines Morgens zu Karen. »Ich glaube, ich habe es mir anders überlegt.«
Sie stellten bei AFAA einen Antrag auf Adoption eines kleinen Jungen. Wie Samuail.
Einige Monate später rief Cheryl Carter-Schotts die Cheneys an und sagte: »Wir haben einen kleinen Jungen, aber er ist älter, als Sie angegeben haben. Er ist drei oder vier Jahre alt.« Er war Waise, seine Eltern waren an Aids gestorben, er selbst war gesund, und er konnte mit einem Stück Kreide Buchstaben kritzeln.
Sie stimmten zu.
Sie hatten kaum Zeit, sich zu freuen, die Fotos zu betrachten, es ihren Freunden und ihrer Familie zu erzählen (»Ein schwarzes Kind?«, fragten einige besorgt) und das Kinderzimmer einzurichten, als sie eine verwirrende Nachricht erhielten: Mintesinots Vater Eskender war noch am Leben. Er lebte auf der Straße und starb an Aids.
Plötzlich waren sich die Cheneys nicht mehr sicher, dass dieser Junge ihrer sein würde. Er war keine Waise. Habe ich mich wieder getäuscht?
Sie brauchten eine Nacht, um eine Entscheidung zu treffen. Ihnen war klar, dass diese Entscheidung dazu führen konnte, dass ihr Sohn zu seinem Vater zurückkehrte, statt zu ihnen zu kommen. Sie wussten, dass die lebenslange Übernahme der Behandlungskosten für einen Mann, der an HIV/Aids erkrankt war, sie der Mittel berauben würde, die sie für eine Adoption brauchten. Aber sie hielten es für das Richtige.
Die Cheneys schickten eine E-Mail an AFAA: »Wir möchten die Kosten für die medizinische Versorgung und die Medikamente für Mintesinots Vater übernehmen.«
Es kam ein weiterer Anruf von Cheryl Carter-Schotts: Es war zu spät. Eskender war tot.
Im März 2005 trat Mintesinot in Begleitung eines Mitarbeiters von AFAA den langen Flug von Addis Abeba über Kairo und Frankfurt nach Los Angeles an. Er hatte Fotos von seinen neuen Eltern bekommen, und er erkannte die Cheneys auf der Stelle, als er sie auf dem Flughafen von Los Angeles sah: Mommy. Daddy. In seinem neuen Zuhause in Phoenix gab es so viel zu erforschen: den Schlauch im Vorgarten, und dass man an einem Hahn drehen konnte und Wasser herausspritzte. Das war toll. Genauso toll, wenn auch auf
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