'Alle meine Kinder'
vorläufig weiterbetreiben dürfen, wobei es Ihrer Verantwortung obliegt, dass die verwaisten Kinder, die sich in Ihrer Obhut befinden, keinen unnötigen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind.
Mit anderen Worten: Wir sperren Ihren Laden noch nicht zu, sondern warten erst die Ergebnisse der weiteren Untersuchung ab.
Es trafen noch mehr vielversprechende Nachrichten ein: Ihr kam zu Ohren, dass Wasihun (der ausgezogen war) vom Gericht zu einer Aussage über den Missbrauch vorgeladen worden war und gesagt hatte: »Es ist eigentlich nichts passiert. Jemand hat mir gesagt, was ich erzählen soll.«
Das mochte der Wahrheit entsprechen oder auch nicht, wie sie jetzt begriff; selbst Wasihun wusste inzwischen vermutlich nicht mehr genau, was ihm in jener Nacht vor sechzehn Monaten tatsächlich widerfahren war.
Dereje und Zezalem waren von Familien im Ausland adoptiert worden, und sämtliche Berichte klangen positiv: Die beiden schienen kein Trauma erlitten zu haben. Ihren neuen Eltern hatte man mitgeteilt, dass die beiden möglicherweise Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren, aber zehn Monate nach der Adoption gab es keine Hinweise darauf.
Haregewoin erfuhr, dass das Sozialamt behauptet hatte, es würde sich um Kinder kümmern, die sich in Wirklichkeit in ihrer Obhut befanden und zu deren Unterhalt sie von der Stadt keinerlei Unterstützung erhielt.
Aus diesem Grund und weil Verdacht auf andere Versäumnisse des Sozialamts bestand, schaltete sich das Justizministerium in Haregewoins Fall ein. Am 13. März 2006 traf es eine endgültige Entscheidung über ihre Einrichtung. Darin heißt es:
An das Ministerium für Arbeit und Soziales
Vom Justizministerium, Demokratische Bundesrepublik Äthiopien
Betreff: Atetegeb Worku Metasebia Welage Aleba Histanet Merj Mahber [Atetegeb-Worku-Verein zur Unterstützung von Waisen]
Der obengenannten Einrichtung wurde vom Justizministerium die Genehmigung zur Führung erteilt, und sie ist derzeit in Addis Abeba tätig, innerhalb des Landes, und in einigen Regionen. Ihre Tätigkeit in Addis-Abeba-Stadt wird vom Addis Abeba City Social and Civil Affairs Bureau überwacht.
Ab Juni 2005 übernimmt dies jedoch das Justizministerium.
Das Justizministerium ist außerdem ermächtigt, gem. Artikel 23/8 der Proklamation 471/98, die Tätigkeit von NGOs in Addis Abeba und Dire Dawa und begrenzten oder nicht begrenzten Gebieten zu erfassen und zu überwachen.
Es hat daher die Verantwortung übernommen und ist derzeit mit der Durchführung dieser Aufgabe befasst. Demgemäß erklären wir hiermit, dass Ihre Behörde die mit der Einrichtung in Zusammenhang stehenden Fälle in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium überwachen kann.
Hochachtungsvoll
Unterschrift und Siegel
Der Justizminister
Atetegeb Worku war jetzt unter der Ägide des Justizministeriums tätig. Mit dessen Erlaubnis setzte Haregewoin ihre Arbeit fort und war bevollmächtigt, Adoptionen in die Wege zu leiten. Vor den Gerichten kam wieder Bewegung in die Fälle von Kindern, für die man bereits Adoptiveltern gefunden hatte und die in den Waisenhäusern von Agenturen darauf warteten, dass sie endlich abgeholt wurden.
Die am wenigsten erwartete und schönste Neuigkeit war, dass Haregewoins Schwiegersohn Ashiber, mit dem Suzie in Kontakt geblieben war, schließlich Suzies Bitten nachgab und erlaubte, dass sein Sohn, inzwischen sieben Jahre alt, Haregewoin kennenlernte.
»Wenn sie stirbt, ohne ihn gesehen zu haben, wird er mir das eines Tages vorhalten, wenn er erwachsen ist«, erklärte Ashiber zur Begründung.
Er hatte den Jungen in dem Glauben aufwachsen lassen, seine Tante, Ashibers Schwester, sei seine Mutter. Man ließ ihn fürs Erste auch weiterhin in diesem Glauben; an dem Tag, an dem Suzie den Jungen - in Khakihose mit passender Weste und Kappe herausgeputzt - abholen und zu Haregewoin bringen durfte, wusste er nicht, dass das große gerahmte Foto von Mutter und Kind seine verstorbene Mutter mit ihm als Säugling zeigte. Aber man sagte ihm immerhin, dass Haregewoin seine Großmutter war.
Er war ein zurückhaltender Junge, hübsch und scheu und still. Haregewoin zog ihn sanft an sich und gab ihm einen Kuss auf jede Wange, und noch einen, und noch einen, und dann hob sie ihn hoch und setzte ihn neben sich aufs Bett, damit sie ihn aus der Nähe betrachten konnte. »Ganz die Mutter«, erklärte sie. »Er ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Er war als verzärteltes und behütetes Einzelkind
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