'Alle meine Kinder'
Susan die folgenreichen Worte nicht aussprach, die düstere Prophezeiung, dass sie für den Rest ihres Lebens eine schwere Aufgabe zu meistern hatten.
Aus medizinischer Sicht besteht ein Interesse daran, das tatsächliche Alter des Kindes zu bestimmen, natürlich können wir mithilfe von Untersuchungen der Zähne und des Knochenbaus eine halbwegs genaue Aussage treffen; aber mich interessiert mehr, was das für ein Kind ist, das ich vor mir habe, dachte sie. Ich bin nicht bereit, eine Prognose abzugeben. Manche kognitiven Beeinträchtigungen können zu einer dauerhaften Behinderung führen; aber ich bin noch nicht bereit, eine solche Aussage über Ababu zu treffen.
Zu Dave sagte sie: »Ich bin noch nicht so weit, dass ich mir Sorgen mache. Ich kann ihm all die Hilfe geben, die er braucht, und dazu muss ich ihn in keine Schublade stecken.«
In den letzten sechs Wochen von Daves Schuljahr kümmerte Susan sich um Ababu, aber Dave wusste, was ihn jeden Tag zu Hause erwartete und was ihn in den kommenden langen Sommerwochen erwartete und was ihn in den kommenden Jahren erwartete, und er war sich nicht sicher, ob er dafür die nötige Kraft aufbringen würde.
Susan wies ihn auf die Fortschritte hin, die sie sah, die Veränderungen an Ababu. Tim und Dawson hatten zum Beispiel zuerst Angst gehabt, mit Ababu zu spielen; er wirkte so unsicher und zerbrechlich, und sein schwankender Gang machte sie unsicher. Aber dann schenkten ihnen die Nachbarn ihr altes Trampolin, und Ababu - der sich zunächst davor fürchtete hinaufzuklettern - begriff schnell, wie viel Spaß es machte, und verbrachte jeden Tag etliche Stunden damit, darauf herumzuspringen. Seine Beine wurden kräftiger; sein Gang normalisierte sich; und er fing an, sich mit seinen Brüdern zu balgen. Bald war es seine Lieblingsbeschäftigung (abgesehen davon, auf Daves Arm zu sitzen), sich mit Tim und Dawson auf dem Boden oder auf den Betten oder auf dem Trampolin zu wälzen und mit ihnen zu ringen.
Er lernte, Spielsachen mit Violet zu teilen, statt sich einfach ihre Sachen zu nehmen. Er lernte, sich zum Essen hinzusetzen und sitzen zu bleiben, statt sich etwas vom Tisch zu schnappen und damit wegzulaufen. Sein Wortschatz wurde größer.
Eines Tages sagte er zu Dave: »Ich böse«, und schaute finster drein, um zu unterstreichen, was er meinte. Dave war erstaunt und gerührt: Ababu hatte gerade seine Gefühle mit Worten ausgedrückt, statt loszubrüllen und um sich zu schlagen. Dave wurde bewusst, dass er seit einer Woche keinen Wutanfall von Ababu mehr erlebt hatte. Er erkannte plötzlich, dass in diesem Körper vor ihm eine kleine Persönlichkeit steckte, ein Verstand, der langsam aufwachte.
Jeden Tag, Schritt für Schritt, entwickelte Ababu sich ein bisschen weiter. Er wuchs in die Familie hinein. Er erfasste ihre Regeln - was lustig war, was erlaubt war und was verboten war. Er gewöhnte sich daran, dass es Zeiten für Frühstück, Tagesstätte, Mittagessen und Schlafengehen gab. Im Auto kletterte man auf seinen Kindersitz und wartete, bis einen jemand anschnallte. Im Supermarkt blieb man im Einkaufswagen sitzen und behielt seine Hände bei sich. Auf dem Parkplatz ging man an der Hand von Mommy oder Daddy. Niemand mochte es, wenn man einen Wutanfall bekam, und er nützte einem sowieso nichts, also konnte man es genauso gut auch sein lassen. Man durfte nicht einfach in das Zimmer von Tim und Dawson gehen und an den Knöpfen ihrer Geräte herumdrehen, es sei denn, sie erlaubten es einem. Violet konnte es nicht leiden, wenn man ihren Barbiepuppen die Köpfe abriss. Daddy hatte es lieber, wenn man den Inhalt der Windel nicht mit den Händen erforschte.
Janice Bennett, die Mutter von Susan, hatte ihren Besuch hinausgezögert. Sie wollte den Familienmitgliedern ein paar Wochen Zeit lassen, eine Beziehung zueinander aufzubauen, aber sie befürchtete auch, dass sie den kleinen Fremdling nicht mögen würde, dass sie für ihn nicht die gleiche Zuneigung empfinden könnte wie für Tim, Dawson, Violet und ihre übrigen Enkelkinder. Sie hatte auf taktvolle Weise, wenn auch vergeblich, versucht, ihre äußerst gebildete und auf diesem Gebiet offensichtlich erfahrene Tochter zu warnen: »Du willst ein afrikanisches Kind in diese durch und durch weiße Umgebung verpflanzen? Meinst du, dass die Leute ihn akzeptieren werden?«
Susan lud ihre Mutter ein, ihren jüngsten Enkelsohn kennenzulernen. Janice ging zögerlich durch den Flur, den mitgebrachten neuen Spielanzug vor sich
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