'Alle meine Kinder'
sagte Haregewoin zu Atetegeb. Sie hatte sie warm eingepackt. Ihr Blick fiel auf das leere Fensterbrett, auf das sie am nächsten Tag Blumentöpfe stellen wollte. »Du bedeutest mir so viel.«
»Ich habe dich auch lieb«, murmelte Atetegeb.
In der Nacht wurde Haregewoin von dem Keuchen wach gehalten, mit dem die junge Frau im Bett neben ihr um Atem rang. Worku hat Glück gehabt , dachte sie. Atetegeb hatte fast keine Haare mehr, ihr Gesicht war von Ausschlag entstellt, ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen blind, aber für Haregewoin war sie immer noch schön. »Mein armes Kind«, sagte sie leise und zog Atetegeb, die nichts davon spürte, in der Dunkelheit an sich. Das Leben ihrer Tochter war jetzt so zerbrechlich und schwach wie das eines zu früh geborenen Kindes. In den letzten Stunden mit Atetegeb hatte Haregewoin dieselben Empfindungen wie in den ersten Stunden mit der neugeborenen Atetegeb: die durch Schlafmangel hervorgerufene Verwirrtheit, das Glück intensiver Nähe, sich nachts in ein Bett zu legen, wo ein warmer kleiner Körper auf sie wartete.
»Lebe«, flüsterte die Mutter ihr ins Ohr, während Atetegeb immer wieder das Bewusstsein verlor.
Haregewoin zog den abgemagerten, knochigen Körper ihrer Tochter an sich, wickelte die Decke um sie und wiegte sie sanft hin und her, summte unter Tränen ein Schlaflied. Es war, als versuche man, auf einem windumtosten Berggipfel eine Flamme am Brennen zu halten, wenn alle Kräfte der Natur sich gegen einen verbündeten. »Atetegeb«, flüsterte sie. Aber die Gelenke gaben nach, die Muskeln wurden schlaff, und die schwache Lebensflamme erlosch.
Es war April 1998.
Ashiber kam.
»Ich werde meine Frau begraben«, bot er an.
»Nimm sie«, sagte Haregewoin schluchzend.
Ihre Trauer um Worku war im Vergleich zu dem, was sie jetzt durchlebte, etwas völlig Normales gewesen.
Haregewoin lief mit steifen Schritten und irrem Blick durch die Zimmer ihres kleinen Hauses, ungekämmt, nur halb angezogen, einen schrecklichen Ausdruck im Gesicht. Bei der Beerdigung schrie sie und grub sich die Fingernägel in die Wangen. Suzie, die nach Hause geflogen war, fuhr Haregewoin zu ihrem kleinen Haus und versuchte, sie ins Bett zu legen, aber ihre Mutter war einige Tage lang nicht bei Sinnen. Die Tränen hatten ihren Blick glasig gemacht, sie sah jeden, der mit ihr sprach, verständnislos an. Sie war so lange nicht von der Seite ihrer Tochter gewichen, die an der Grenze zum Tod gestanden hatte - es war erstaunlich, dass Atetegeb eine Stelle zum Durchschlüpfen gefunden und sie allein zurückgelassen hatte.
Suzie war vor Kummer ebenfalls wie gelähmt. »Sie war meine Schwester, meine beste Freundin«, sagte sie zu den Besuchern, sackte zusammen und schüttelte den Kopf, so dass ihr die Haare ins Gesicht fielen; sie hatte sonst niemandem etwas zu sagen außer ihrer Mutter.
Haregewoin saß am Fenster und starrte hinaus auf die Büsche. Eine Krähe, ein Schmetterling, selbst eine Grille besaß die geheime Rezeptur für das Elixier des Lebens, das sie ihrer Tochter nicht hatte bereiten können. Sie brachte es kaum mehr über sich, eine Ameise zu zertreten, weil sie wusste, dass der winzige Organismus etwas war, was die besten Wissenschaftler nicht bauen, die herausragendsten Ärzte nicht wieder heilen konnten. Sie war erschöpft von der Anstrengung, für ihre Tochter etwas zu bewahren, was sogar für einen Wurm selbstverständlich war: das Geschenk, einen neuen Tag zu erleben.
Am schmerzlichsten war es, zu sehen, wie gesegnet alle anderen Mütter waren. Sie hielten ihre Töchter am Leben, während sie zu ihrer unendlichen Beschämung genau darin, dem Allerwichtigsten, versagt hatte.
Alte Freunde, Kollegen, Nachbarn und die Familien von Workus Schülern brachten ihr dampfende Eintöpfe, die nach berbere (ein Gewürz aus rotem Chili und Pfeffer), grünem Paprika und Zwiebeln dufteten. »Haregewoin!«, riefen sie, küssten sie auf beide Wangen, wollten, dass sie ihnen in die Augen sah, ihr Essen aß, ihnen sagte, was sie jetzt vorhatte.
»Meine Tochter«, klagte sie, zu beschämt, um sie anzusehen.
12
Der Winter ihres Lebens brach an. Ihr unnachahmliches Lächeln war verschwunden und wollte nicht wiederkommen. Ihre Augen schwammen in Tränen, und ihre einstmals straffen Schultern sanken nach vorn. Ihr Körper schrumpfte und passte nicht mehr in ihre Hosenanzüge. Sie trug sowieso nur noch Schwarz, einen wadenlangen Baumwollrock mit einem elastischen Bund und einen
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