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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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werden verschiedene Formen von Naturreligonen ausgeübt; in den nördlichen Hochebenen, um Gondar herum, leben die Anhänger einer alten und einzigartigen Form des Judaismus.)
    Alle Kirchen führen zu Gott , dachte Haregewoin. Ohne dass sie es merkte, fing sie an, auf die anderen regelmäßigen Kirchenbesucher und die Priester den Eindruck einer sehr gläubigen Frau zu machen.
    Wenn Fremde sie fragten, sagte sie: »Meine Tochter ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben.«
    Auf diese Weise verging ein Jahr.
     
    Jeden Tag drehte sie eine Runde vom Bett zu der steinernen Bank, von der steinernen Bank zur Kirchenbank, von der Kirchenbank zum Küchenstuhl und vom Küchenstuhl zum Bett. Selbst diese wenige Bewegung erschöpfte sie. Es kostete sie zu viel Geld und Mühe, für sich selbst zu sorgen. Sie fing an, in ihren Kleidern zu schlafen, um die Kraft zu sparen, die es ihr abverlangte, sie abends auszuziehen und morgens wieder anzuziehen. Essen interessierte sie überhaupt nicht, sie schluckte es einfach hinunter, ohne auf den Geschmack zu achten.
    Am schlimmsten waren die Tage, an denen ihr Verstand - von dem Moment an, in dem sie morgens die Augen aufschlug - ihr sagte, dass ihre Tochter nicht mehr da war, nirgends, und dass nichts, was sie tat, sie ihr näherbringen würde. An einem solchen Tag ließ sie das Auto zu Hause stehen und versuchte, sich in der geschäftigen Innenstadt zu verlieren. Sie zog sich das schwarze Tuch halb übers Gesicht, senkte den Kopf und mischte sich unter die Menschen, die die unbefestigten Gehwege entlangströmten. Sie ließ sich von der Menge treiben, den Kopf so tief gesenkt, dass sie manchmal fast die Abzweigung den Hügel hinauf zum Friedhof verpasste. Alte schwarz gekleidete Frauen gingen mühsam die steil ansteigende, kurze Straße hinauf und hinunter: alte Witwen mit Kruzifixen, die einen vertrauten Eindruck machten, Frauen, wie man sie in Griechenland, Italien, Irland, in der Ukraine sah. Sie war jetzt eine von ihnen. Ihr Rücken würde krumm werden; ihre Zähne würden zuerst gelb und dann schwarz werden; in ihre Rede würden sich merkwürdige Beschwörungsformeln stehlen. Das war der Weg, der vor ihr lag.
    Gelegentlich lief sie auf der Straße einer alten Freundin in die Arme. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die andere Frau abzuwimmeln. »Meine Liebe!«, setzte eine Frau im Hosenanzug und rot geschminkten Lippen an, aber Haregewoin hob abwehrend die Hand.
    »Du musst uns wenigstens einmal zum Kaffee besuchen. Bitte!«
    »Tut mir leid. Ich kann nicht.«
    Sie wollte den Trost und die Ablenkung nicht, die ihr die alten Freundinnen anboten, denn ihre Trauer war die letzte Verbindung zwischen ihr und Atetegeb.
    Wenn die Leute nicht lockerließen und weiterbohrten, erklärte sie ihnen schlicht: »Meine Tochter stand mir sehr nahe. Ich hatte sie sehr gern.«

13
    Der schäbige Friedhof auf dem Hügel war mit Rundhütten übersät. Jede davon erinnerte an eine winzige Kirche mit einem hölzernen Kreuz an der höchsten Stelle des grasbedeckten Dachs. In diesen Hütten lebten Menschen, die sich von der Welt abgewandt hatten. Die äthiopische Kirche gestattete es Suchenden und Bettlern, in mönchischer Abgeschiedenheit auf Friedhöfen zu wohnen. Darunter waren wild aussehende, heilige Männer mit Bärten, verfilzten Haarmähnen und ledrigen Fußsohlen. Vielleicht waren sie Propheten, vielleicht waren sie auch einfach nur verrückt. Dann gab es einsame Männer oder Frauen, die in tiefer Trauer lebten oder unter dem Joch einer fürchterlichen Buße standen. Sie beteten, wiegten sich hin und her, knieten, weinten, und dann schliefen sie auf dem kalten Erdboden. Sie aßen kein Fleisch. Einige ernährten sich nur von Wasser und den Feigen, die auf dem Kirchhof wuchsen. Andere nahmen Almosen von Gemeindemitgliedern an. Einmal am Tag ging ein Priester zu ihnen und besprenkelte sie mit Weihwasser.
    Haregewoin wusste, dass hier der ihr bestimmte Platz war, zwischen den Trauernden, den Büßern und den Toten. Es war Oktober 1999, achtzehn Monate nach Atetegebs Tod, und sie war immer noch nicht in der Lage, mit anderen zu sprechen und zu handeln, wie es üblich war.
    Meine Welt ist zerstört , dachte sie. Ich bin mena (nutzlos, ohne Wert).
    Sie bereitete sich darauf vor, mit dem orthodoxen Priester zu sprechen und darum zu bitten, in die Gemeinschaft auf dem Friedhof aufgenommen zu werden. Sie würde um eine Hütte in der Nähe von Atetegeb bitten. Sie würde ihre letzten Besitztümer

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