'Alle meine Kinder'
langen, weiten Baumwollpullover, den sie mit einem Gürtel über ihrem eingefallenen Bauch zusammenhielt.
Sie hatte fast kein Geld mehr - sie hatte es in dem alles verzehrenden Feuer von Atetegebs Krankheit verbrannt. Sie musste sich eine Arbeit suchen, konnte sich jedoch noch nicht dazu durchringen. In der Zwischenzeit hinderte Ashiber sie daran, dass sie ihren Enkel zum Mittelpunkt ihres Lebens machte. Atetegeb war ein »Kapitel« in seinem Leben, das er »hinter sich lassen« wollte. Er brach die Verbindung zur Familie von Atetegeb Worku ab. Stattdessen wandte er sich Hilfe suchend an seine Schwester, die in Deutschland lebte. Er besuchte sie häufig. Schließlich kehrte sie nach Addis Abeba zurück, um seinen Sohn großzuziehen. Der Junge wuchs in dem Glauben auf, seine Tante sei seine Mutter.
Haregewoin ermutigte Suzie, ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen und nach Kairo zurückzukehren, wo sie Freunde hatte, die sie ablenkten; Haregewoin selbst war nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Aus der Ferne wurde Suzie zur wichtigsten Stütze ihrer Mutter - emotional und finanziell.
Haregewoin packte die Sachen aus dem Krankenzimmer zusammen, um sie wegzuwerfen. Sie packte Atetegebs Nachthemden und Bettwäsche ein. Sie öffnete die Fenster, so dass der helle Tag in das leere Zimmer dringen konnte; das schmale Bett und die Matratze und der hölzerne Nachttisch wurden von der Sonne ebenso gewärmt wie die Äste des Feigenbaums im Garten, nur die Stare und die Tauben fehlten.
Die Leere und die Sauberkeit des kleinen Hauses erstickten sie. Sie konnte in dieser Einsamkeit nicht essen. Sie konnte kauen, aber nicht schlucken. Sie trug ihren Teller in den Garten und öffnete das Tor einen Spaltbreit. Sie aß im Stehen und sah dabei die Straße hinunter. In der Luft hingen Rauch und Autoabgase; ein Stück weiter unten briet jemand Fleisch und Zwiebeln über einem Holzfeuer.
Bei Sonnenuntergang ging sie ins Bett, lag einfach nur da. Eines Nachts dachte sie: Was ist eigentlich aus all den Büchern geworden, die Atetegeb früher gelesen hat? Sie setzte sich auf, dann ließ sie sich wieder zurücksinken und dachte: Nein, ich will nicht lesen! In Romanen ging es oft um Empfindungen, wie sie sich erinnerte, und in ihrem Leben gab es bereits zu viele Empfindungen. Sie wollte Empfindungslosigkeit, das Fehlen von Empfindungen. Bei Sonnenaufgang erhob sie sich, gab die Hoffnung auf Schlaf auf; hinter einem Paravent aus Bambus stellte sie sich in der Dusche im Hof unter einen dünnen kalten Wasserstrahl. Sie hüllte sich in Schwarz, zog Strümpfe und Schuhe an, vermied den Blick in den Spiegel und fuhr zum Friedhof. Sie verbrachte den Tag auf einer granitenen Bank neben Atetegebs Grab. »Mutter ist hier, Liebes«, sagte sie zu dem Erdhügel. Wenn sie sich zusammenkrümmte und weinte, geschah das aus Mitleid mit Atetegeb, die von ihrem Kind getrennt worden war und von ihrer Mutter und ihrer Schwester. Wenn sie Selbstgespräche führte, sprach sie zugleich auch an Stelle von Atetegeb: Sie lief ohne Handtasche aus dem Haus, eilte zurück, schnalzte mit der Zunge und schimpfte: »Wenn Mutter endlich mal ihre fünf Sinne beisammenhätte, wäre sie schon längst unterwegs!«
Wahrscheinlich döste sie an den langen Nachmittagen ein, sank in sich zusammen. Auch die Bougainvilleen wurden ganz matt; nur das Zirpen der Grillen und Zikaden hörte niemals auf. Wenn sie mit einem Ruck erwachte, stellte sie fest, dass das goldene Licht auf den Hügeln zu silbernen Streifen auf den Ästen und Blättern geworden war. In der Dämmerung erhob sie sich mit knackenden Kniegelenken und schleppte sich zurück zu ihrem Auto. Sie fuhr langsam, da in dem kalten Haus niemand auf sie wartete.
Auf dem Nachhausweg hielt sie oft an, um in einer Kirche zu beten. In Addis Abeba gab es viele Kirchen und Moscheen, sogar ein jüdisches Gebetshaus; aber obwohl sie orthodox war, achtete sie nicht mehr darauf, welche christliche Glaubensrichtung die Kirche, die sie aufsuchte, hatte. (Äthiopien ist eines der ältesten christlichen Länder, im vierten Jahrhundert christianisiert. Etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung sind Christen, die meisten davon äthiopisch-orthodox; und etwas mehr als die Hälfte sind Muslime. Der Islam erreichte Äthiopien noch zu Lebzeiten des Propheten Mohammed. Einige seiner Jünger fanden Zuflucht in Aksum; später befahl der Prophet seinen Anhängern: »Lasset den Abessinier ihren Frieden!« In Gebieten im Süden und im Westen
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