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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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extrem gefährdet, in die Prostitution gezwungen oder als Hausbedienstete oder Feldarbeiter körperlich oder sexuell missbraucht zu werden. Zwölfjährige Kinder standen plötzlich einem Haushalt vor und waren für jüngere Brüder und Schwestern verantwortlich, einschließlich Säuglinge. Wenn Letztere an Aids oder Unterernährung starben, wurden die älteren Kinder von Schuldgefühlen gequält. Auf der gestampften Erde in Verschlägen und Hütten saßen überall im schönen Äthiopien Kinder mit überkreuzten Beinen beisammen und starben einen leisen Hungertod.
    Experten sprechen von »child-headed households«, Haushalten, die von Kindern geführt werden.
    Die UNICEF stellte fest, dass die Überlebensstrategie dieser Kinder-Haushalte darin bestand, »weniger zu essen«. 79
    Eines Nachmittags kam ein Geschwisterpaar in Haregewoins Zimmer gestürmt, das sich gegenseitig die heftigsten Beschuldigungen an den Kopf warf. Beide weinten. Beide hatten glänzende schwarze Augen, pechschwarze Haut und Locken und die muskulösen Beine von Läufern. Der Junge, ungefähr neun Jahre alt, beschuldigte seine Schwester, ihn geschlagen zu haben. Haregewoin setzte sich aufs Bett und ließ sie reden.
    »Er kommandiert mich herum!«, rief die Schwester, elf Jahre alt. »Ich bin die Ältere! Er hat mir nichts zu sagen!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
    »Sie ist ein Mädchen«, sagte der Junge. »Ein Junge ist der Mann in der Familie. Jetzt bin ich der Mann in der Familie. Der Mann hat das Sagen.«
    »Du bist nicht der Mann in der Familie. Du bist ein dummer kleiner Junge«, sagte das Mädchen.
    »Du musst tun, was ich sage!«, schrie der Junge.
    »Nein!«, fiel sie ihm ins Wort und fing vor Zorn wieder an zu heulen. »Ich bin die Ältere. Ich bin seine ältere Schwester. Er hat mir nichts zu sagen.«
    Vor Wut konnten sie sich nicht einmal ansehen. Sie hörten auf zu schreien und blickten Haregewoin an.
    »Ihr seid die Einzigen, die von eurer ganzen Familie übrig sind?«, fragte sie.
    Sie nickten.
    Sie nahm ihre Brille ab, rieb sich die Nasenwurzel, dann blickte sie hoch und sagte: »Ihr müsst respektvoll und freundlich miteinander umgehen. Ihr müsst euch gegenseitig achten. Ja, du bist der Junge, und das ist wichtig, aber sie ist die Ältere. Sie ist jetzt deine Mutter. Du musst tun, was sie sagt. Wenn du größer und stärker bist, dann hilfst du ihr. Sie ist deine Schwester und deine Mutter.«
    Die Kinder starrten Haregewoin an, zu verblüfft über diesen Schiedsspruch, um etwas zu sagen. Sie hatten eigentlich erwartet, dass einer von ihnen ausgeschimpft werden oder den Hintern versohlt bekommen würde. Stumm und erstaunt sahen sie sich an. Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Plötzlich warf sich der Junge seiner Schwester zu Füßen, umfasste ihre Sandalen, küsste sie und bat sie um Verzeihung.
    »Geht jetzt«, sagte Haregewoin. Die beiden drehten sich um und rannten hinaus, um weiterzuspielen.
     
    Streitereien unter Geschwistern, die keiner schlichtete, waren nicht das Schlimmste, was elternlosen Kindern widerfahren konnte.
    An einem anderen, von monotonem Nieselregen heimgesuchten Nachmittag während der Regenzeit kam ein Anruf für ein Mädchen namens Kedamawit. Haregewoin hatte an diesem Tag Besuch von zwei älteren Damen in traditionellen weißen Gewändern und Tüchern. Eine von ihnen hatte an einer Kette eine Lesebrille um den Hals hängen. Beide saßen im behaglichen Halbdunkel und tranken Kaffee. Sara, die HIV-positive ehemalige Studentin, der Haregewoin Zuflucht gewährt hatte, nahm den Anruf entgegen und ging dann zur Tür, um Kedamawit zu rufen. Wenn Haregewoin ans Telefon gegangen wäre, hätte sie sich vielleicht selbst um den Anrufer gekümmert.
    Ein mageres, ungekämmtes Mädchen in einem zerrissenen T-Shirt und zu kleinen Jeans kam ins Zimmer, ihm folgte seine ängstliche kleine Schwester Meseret. Die Achtjährige nahm den Hörer und fing unmittelbar darauf an, zu zittern und zu schreien und zu weinen; sie schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht und weinte heftig. Kedamawit war außer sich vor Angst, geradezu panisch; ihr Mund war ein riesiges ovales Loch, aus dem klägliche Laute drangen. Die trockenen, verfilzten Haare standen ihr vom Kopf ab, auf ihrer Haut erschienen weiße Flecken, die zu glühen schienen, während sie laut heulte. Sie warf den Hörer auf den Tisch, schlang die Arme um sich und wiegte sich vor und zurück. Meseret, die kleine Schwester, riss verängstigt

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