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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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sagten sie.
    »Gut! Braucht ihr irgendetwas?«
    Sie zuckten die Schultern. Sie musterten sein Gesicht, suchten nach Ähnlichkeiten mit Abaye . Sie sahen einander an und lächelten aufgeregt.
    »Gut, gut«, wiederholte er nach ein paar Minuten. Er stand auf, ließ sie von seinem Schoß rutschen und sah ihnen zu, wie sie wieder ins Bett gingen. Dann zog er einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn auf den Holztisch. Am nächsten Morgen rannte Kedamawit zur Nachbarin und gab ihr das Geld. Die Frau steckte es in ihre Schürzentasche. An diesen Nachmittag lagen neben dem gewohnten, mit einem Tuch bedeckten Teller mit Essen zwei glänzende Äpfel auf dem Tisch. Die runden roten Äpfel ließen den ganzen Raum leuchten. Die Kinder hatten noch nie zuvor einen frischen Apfel gegessen. Sie beschlossen, einen zu essen und den anderen aufzuheben. Abwechselnd knabberten sie an der Schale und drangen dann zu dem saftigen süßen Fleisch vor. Sie aßen ihn ganz auf, ließen nur den Stiel übrig. Dann beschlossen sie, den zweiten Apfel zu essen.
    Am nächsten Nachmittag fanden sie zwei Bananen.
    Und am übernächsten Nachmittag blaue Trauben auf einem Blechteller.
    Der Onkel kam wieder.
    Als er dieses Mal kam, war es nach Mitternacht. Alles ringsum schlief. Er klopfte nicht. Als er neben dem Bett seiner Nichten stand, schüttelte er Kedamawit an der Schulter. »Steh auf«, befahl er. Schläfrig kroch sie aus dem Bett. Er setzte sich auf den Stuhl, fasste sie um die Taille und zog sie zu sich. »Zieh dich aus.«
    »Warum?«
    »Du hast mich gehört. Ich habe gesagt, du sollst dich ausziehen. Komm, ich helf dir, zieh das Hemd aus.«
    Verschlafen dachte sie, er hätte ihnen als Geschenk neue Anziehsachen mitgebracht. Sie sollte etwas anprobieren. Sie hob die Arme und ließ sich das große T-Shirt über den Kopf ziehen. Sie erstarrte, als er ihr die Unterhose herunterzog.
     
    Am Morgen sah sie, dass er erneut Geld auf den Tisch gelegt hatte.
    Zwei Nächte später kam er wieder. Er musste sich mit aller Kraft gegen die Tür werfen, damit der eingeklemmte Stuhl umfiel. Er mühte sich eine ganze Weile unter viel Gepolter damit ab und war wütend, als er schließlich ins Zimmer kam. Dieses Mal fand er Kedamawit hellwach und am ganzen Körper zitternd vor. Er zog den Stuhl neben das Bett. »Steh auf«, sagte er. Sie gab einen wimmernden Laut von sich und gehorchte nicht. »Ich habe gesagt, steh auf, oder ich wecke sie auf. Willst du das? Mir ist es egal.« Sie stand auf.
    Als er danach ging und einen Birr (neun Cent) auf den Tisch warf, sagte er: »Das nächste Mal erwarte ich, dass der Stuhl nicht mehr im Weg steht. Lass ihn, wo er hingehört: hier.« Er schob ihn mit einer so heftigen Bewegung unter den Tisch, dass er beinahe umkippte. »Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall«, beschwerte er sich, bevor er das Zimmer verließ. »Mach gefälligst sauber.«
    Viele Monate lang kam er an ein, zwei Tagen in der Woche. Einmal kam er Sonntagvormittag und brachte seine beiden kleinen Söhne mit, die Cousins der Mädchen. Er begrüßte mit viel Getue alle Nachbarn, schüttelte Hände, nahm Beileidsbekundungen entgegen. Er hatte einen zugedeckten Teller dabei, Essen, das seine Frau zubereitet hatte, und hielt ihn in die Höhe, damit jeder sehen konnte, was für ein großzügiges Geschenk er mitgebracht hatte.
     
    »Warum kommt der Onkel immer so spät in der Nacht?«, wollte Meseret von Kedamawit wissen. An der Art, wie sie fragte, konnte Kedamawit erkennen, dass Meseret nachts aufwachte und alles mitbekam.
    »Sag es ihr«, sagte Meseret und meinte damit die Nachbarin. Das war eine gute Idee.
    Kedamawit zupfte die Frau am Rock, als sie Wäsche aufhängte. »Mein Onkel zieht mir die Unterhose aus«, sagte sie.
    »Was?«
    »Was hat sie gesagt?«, fragte Meseret, als Kedamawit wieder ins Haus gelaufen kam.
    »Sie hat die Polizei angerufen, und die haben gesagt, was wir machen sollen«, sagte Kedamawit. »Heute Nacht soll ich alles anziehen, was wir haben, wenn wir ins Bett gehen. Und wenn der Onkel kommt, soll ich nach der Nachbarin rufen, und dann kommt sie und bringt alle ihre Freundinnen mit.«
    Dahinter steckte die Überlegung, dass der Onkel bei einer zusätzlichen Schicht Kleidung länger brauchen würde, um das Kind auszuziehen, so dass es Zeit hatte, zu schreien und die Nachbarn zu alarmieren.
    Sie zog Meserets Schuluniform unter ihre eigene und darüber das lange braune Kleid und das Baumwolltuch ihrer Mutter. Die beiden Mädchen

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