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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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mussten lachen, als eine dicke Kedamawit durch das Zimmer watschelte. Im Bett schmiegte Meseret sich mit geschlossenen Augen an sie, sog den Geruch des Kleides ein und dachte an ihre Mutter.
    In dieser Nacht kam der Onkel nicht, und auch nicht in den folgenden Nächten. Die Nachbarin schaute jeden Abend vorbei und sagte: »Du rufst nach mir, wenn du mich brauchst, ja? Alle sind bereit.«
    Kedamawit begann zu glauben, dass es vorbei war, dass die Kleidung ihren Onkel irgendwie fernhielt. Aber dann kam er. Sie schlief tief und fest und wachte erschrocken auf, als er sie gegen die Schulter stieß.
    »Steh auf«, sagte er. »He, was sollen die vielen Kleider?«
    »Mir war kalt«, sagte sie.
    »Zieh dich aus.«
    Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie hatte zu viel Angst, um zu schreien.
    »Beeil dich«, sagte er.
    Sie versuchte, Meseret zu schubsen, als sie aufstand, damit sie aufwachte und an ihrer Stelle schreien konnte, aber Meseret wachte nicht auf.
    Kedamawits begann mit zitternden Händen an ihren Knöpfen herumzufummeln und spürte den gierigen Blick ihres Onkel auf sich ruhen. Er stieß sie auf den Boden und machte sich selbst daran, sie auszuziehen. Als sie hinfiel, machte sie einen tiefen, verzweifelten Atemzug, schloss die Augen und schrie. Es war ein gewaltiger, lauter Schrei - sie hatte nicht gewusst, dass sie zu einem solchen Schrei fähig war. Meseret richtete sich sofort im Bett auf und begann ebenfalls zu schreien.
    Die Nachbarinnen kamen barfuß über den Hof gelaufen, stürzten durch die Tür, hoben ihre Laternen in die Höhe und sahen den großen Mann rittlings auf dem Kind, das am Boden lag, sitzen.
    »Was machen Sie da?«, brüllten sie.
    »Sie sollten sich in Grund und Boden schämen!«, schrie eine.
    »Sie sollten denken: ›Wenn mich jetzt meine Mutter sehen könnte!‹«, schrie eine andere.
    »Ich habe nur geschaut, ob die Kinder schlafen«, stammelte der Onkel und versuchte, seinen Kopf vor ihren Hieben zu schützen. Er rannte aus dem Zimmer und zog im Laufen seine Hose hoch, während die Frauen ihre Handys hervorholten und die Polizei riefen. Meseret begann zu weinen. Kedamawit weinte nicht, sondern verfolgte erstaunt das Geschehen.
    Die Nachbarin von nebenan nahm die Mädchen in dieser Nacht mit zu sich nach Hause, und am nächsten Morgen ging sie mit ihnen zur Polizei. Die Polizei rief bei Haregewoin an. »Können Sie die Kinder bitte aufnehmen?« Und sie tat es.
     
    Der Onkel war aufs Land geflohen, wo er sich lange versteckt hielt. Er erfuhr, dass die Mädchen von ihren Eltern ein Stück Land auf dem Dorf geerbt hatten. Er wollte dieses Stück Land für sich, aber dazu brauchte er die Unterschriften der Mädchen.
    »Er ist zurück nach Addis gekommen und tut alles, um die Kinder in die Hand zu bekommen«, erzählte Haregewoin ihren Freundinnen. »Er braucht ihre Unterschriften, damit er ihr Land verkaufen kann. Vergangene Woche ist er sogar hier aufgetaucht.
    Als er das erste Mal kam, hatten wir keine Ahnung, wer er ist, aber als wir uns zu den Kindern umdrehten, waren sie weggerannt, um sich zu verstecken. Da wussten wir, dass er der Onkel ist.«
    Als er das nächste Mal kam, ließ Haregewoin ihn nicht herein.
    »Warum sind Sie gekommen?«, rief sie durch die Tür.
    »Um die Kinder zu besuchen.«
    »Sie haben die Kinder nicht hergebracht; das war die Polizei.«
    »Sie sind meine Kinder. Das kebele hat gesagt, ich soll sie mit zu mir nach Hause nehmen.«
    »Sie werden gesucht. Ich rufe jetzt die Polizei.«
    Der Mann flüchtete und versteckte sich wieder auf dem Land.
    Der Anruf, der die Kinder an diesem Nachmittag so verstört hatte, war von ihrer ehemaligen Nachbarin gekommen.
    Die Nachbarin hatte den Onkel um das Haus herumschleichen sehen, deshalb hatte sie Kedamawit angerufen, um sie zu warnen und ihr zu sagen, dass der Onkel wieder in der Stadt war.
    Die Kinder kamen in sauberen Sachen und mit trockenen Gesichtern aus Haregewoins Zimmer. Hin und wieder entfuhr ihnen noch ein Schluchzer, und sie hielten sich an den Händen, als sie wieder zum Spielen nach draußen gingen.
    »Was willst du jetzt unternehmen?«, fragten die Damen ernst.
    »Oh, ich habe schon etwas unternommen«, sagte Haregewoin. »Ich habe der Polizei gesagt, wo er ist. Sie sollten ihn besser festnehmen. Dieser Onkel ist ein sehr böser Mann. Ich werde ihn auf keinen Fall in die Nähe der Kinder lassen. Ich suche ihnen ein neues Zuhause, und dann findet er sie nicht mehr. Ich suche neue Eltern für sie, die dafür

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