'Alle meine Kinder'
den Mund auf und fing ebenfalls an zu weinen, wobei nicht klar war, ob sie etwas von dem Telefongespräch mitbekommen hatte oder nur durch die Verzweiflung ihrer großen Schwester verschreckt war. Haregewoin kam ins Zimmer geeilt, packte den Telefonhörer und rief etwas hinein. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie die beiden kleinen Mädchen in die Arme und streichelte sie. Kedamawit kreischte und raufte sich die Haare; Meseret klammerte sich furchtsam und verwirrt an sie und Haregewoin.
Die älteren Frauen sahen sich bekümmert an: Hatten die Kinder gerade vom Tod ihrer Mutter erfahren?
Haregewoin warf ihren Freundinnen einen raschen Blick zu und schüttelte den Kopf. Sie sagte leise etwas zu den beiden Mädchen und schickte sie nach nebenan ins Schlafzimmer, in dem an der Wand entlang geschenkte gebrauchte Kleidung aufgestapelt war. »Geht und sucht euch etwas Neues zum Anziehen aus«, sagte sie, und sie rannten plattfüßig, mit eingezogenen Zehen und unter neuerlichem Schluchzen ins Schlafzimmer und schlugen die Tür hinter sich zu. Sara folgte ihnen, um ihnen zu helfen.
Ihre Mutter war nicht eben erst gestorben. Sie war bereits vor einem halben Jahr gestorben. Es war fast noch schlimmer.
Kedamawit und Meseret, sieben und fünf Jahre alt, wohnten allein in einem Haus mit einem Zimmer, das ihre Eltern gemietet hatten. Es lag in einem Hof aus festgestampfter Erde, den es sich mit ähnlichen Häuschen teilte. Es gab eine gemeinschaftliche Kochstelle in der Mitte des Hofes und eine Gemeinschaftslatrine mit Blechwänden und einem Dach aus Ästen. Alte Frauen in langen Röcken passten auf das Feuer auf und machten Schüsseln aus Ton, die sie auf dem Markt verkauften.
Als zuerst der Vater der Kinder an Aids starb und dann die Mutter, wurden ihre Leichen von irgendwelchen Fremden vom kebele abgeholt. Nachbarn und entfernte Verwandte statteten hastige Beileidsbesuche ab; auf dem hölzernen Tisch wurden Teller mit Essen gestellt; jemand schenkte den beiden eine Decke; dann gingen alle wieder. Niemand sagte Kedamawit und Meseret, was sie tun oder wohin sie gehen sollten, also blieben sie allein in dem Haus. Eine Nachbarin brachte ihnen ein Mal am Tag etwas zu essen, ihre einzige Mahlzeit. Auf dem Hof gab ihnen eine alte Frau mit großen Lücken zwischen den schwarzen Zähnen, die sie stets fröhlich grüßte, hin und wieder in einer angeschlagenen Tasse Tee. Sie wurden nicht von der Schule ausgeschlossen, also fassten sie sich jeden Morgen an der Hand und gingen die Gasse hinunter zum Unterricht.
Nach der Schule kamen sie zurück in das leere Haus, aßen das kalte Essen, das die Nachbarin dagelassen hatte, hängten Rock und Pullover ihrer Schuluniform über die beiden hölzernen Stühle im Haus, zogen lange, weite T-Shirts als Nachthemden an und gingen ins Bett. Zum Schutz vor der kalten nächtlichen Gebirgsluft und den unheimlichen Geräuschen schlangen sie die Arme umeinander. Sie weinten um ihre Eltern, aber wenn sie ihren Tränen freien Lauf ließen und » Amaye! Abaye! « wimmerten, fühlten sie sich nur noch schlechter. Deshalb versuchte Kedamawit, sich Meseret gegenüber mehr wie eine Mutter zu verhalten; sie sang ihr die Lieder vor, die früher ihre Mutter gesungen hatte, und strich Meseret über den Kopf, wie es ihre Mutter getan hatte. So ging es ihnen etwas besser. Wenn sie Angst bekamen - vor Einbrechern, vor Hyänen, vor streunenden Hunden -, stand Kedamawit auf, klemmte einen Stuhl unter die Türklinke und sprang schnell wieder ins Bett. Sie versuchten, gleichzeitig einzuschlafen, damit keine von ihnen allein war.
Es gab einen Onkel.
Das kebele forderte den Onkel auf, sich um die Kinder zu kümmern. »Nehmen Sie sie zu sich?«, wurde er gefragt.
»Nein, meine Herren, das geht wirklich nicht«, sagte er. »Ich habe eine Frau und selbst Kinder.«
Aids , schwang unausgesprochen mit.
»Dann müssen Sie ihnen Geld geben, um für ihr Wohl zu sorgen.«
Eines Nachts klopfte der Onkel an die Tür des Hauses seines verstorbenen Halbbruders und schlüpfte hinein. »Alles in Ordnung, ich bin es«, rief er munter. Als er die Arme ausbreitete, sprangen die beiden kleinen Mädchen aus dem Bett und liefen zu ihm, um ihn zu umarmen. Er setzte sich und nahm sie auf den Schoß, kitzelte sie unter den Armen, rieb seine raue Wange an ihren Gesichtern; sie waren verlegen - sie kannten ihn nicht besonders gut -, aber sie kicherten und taten so, als freuten sie sich.
»Kennt ihr mich?«, fragte er.
»Onkel«,
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