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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Laure», sagte Armand zu mir.
    Sie blickte mich mit ernster Miene an und reichte mir, ohne zu lächeln, eine sehr kleine, nervöse und recht feste Hand. Sie war nicht mehr ganz jung; sie hatte eine zerbrechliche Gestalt, große dunkle Augen und einen olivenfarbenen Teint; ihre Haare fielen in schwarzen Locken auf ihre Schultern herab, die ein Schal mit langen Fransen umhüllte.
    «Sie müssen Hunger haben», sagte sie.
    Sie hatte große, tiefe Tassen mit Milchkaffee und geröstete Brotscheiben mit Butter auf den Tisch gestellt. Sie aßen, und Armand und Spinelli sprachen angeregt, sie schienen glücklich, mich wiederzusehen. Ich trank nur ein paar Schluck Kaffee: im Gefängnis hatte ich mir abgewöhnt zu essen. Ich gab mir Mühe, ihnen zu antworten und ihnen zuzulächeln. Aber es war, als läge mein Herz unter kalter Lava begraben.
    «In ein paar Tagen findet ein Bankett zu Ihren Ehren statt», sagte Armand.
    «Ein Bankett?»
    «Die Führer der wichtigsten Arbeiterorganisationen werden daran teilnehmen; Sie sind einer unserer Helden   … Der Aufstand vom 13.   April, dann zehn Jahre Kerker   … Ihr Name hat heute ein Gewicht, von dem Sie gar nichts ahnen.»
    «Allerdings», sagte ich.
    «Diese Idee mit dem Bankett wundert Sie gewiß», meinte Spinelli.
    Ich schüttelte zwar den Kopf, doch er fuhr gleich fort: «Ich werde es Ihnen erklären.»
    Er hatte immer noch seine lebhafte und stammelnde Redeweise. Er setzte mir auseinander, daß die Taktik der Aufstände jetzt aufgegeben sei; man sparte sich die Gewalt für den Augenblick auf, wo wirklich die Revolution losbrechen würde. Was man bis dahin erstrebte, war, die gesamte Arbeiterschaft in einer ungeheuren Organisation zusammenzufassen: die Exilierten hatten in London gelernt, welche Bedeutung die Arbeitervereinigung hatte. Die Bankette boten Gelegenheit, diese Solidarität nach außen zu bekunden, man gab deren viele in Frankreich. Er sprach eine ganze Weile; von Zeit zu Zeit wendete er sich zu Laure, als suche er ihre Zustimmung, und sie nickte ihm beipflichtend zu. Als er fertig war, sagte ich nur: «Ich verstehe.»
    Dann entstand eine Pause; ich merkte, daß ich nicht das tat und nicht die Worte sagte, die sie von mir erwarteten; doch war ich außerstande, diese Worte zu finden.
    Laure erhob sich und sagte: «Wollen Sie sich nicht jetzt ausruhen? Ich bin sicher, die Reise hat sie sehr angestrengt.»
    «Ach ja, ich würde gern schlafen», sagte ich. «Ich habe dort viel geschlafen», fügte ich hinzu.
    «Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.»
    Ich folgte ihr; sie öffnete eine Tür.
    «Es ist kein schönes Zimmer», sagte sie. «Aber wenn Sie sich doch wohl fühlten darin, würden wir uns sehr freuen.»
    «Ich fühle mich sicher wohl.»
    Sie machte die Tür wieder zu, und ich legte mich hin. Auf einem Stuhl lagen frische Wäsche und Kleidungsstücke für mich, auf einem Brett standen Bücher. Draußen hörte man Stimmen und das Geräusch von Schritten; manchmal fuhr ein Bauernwagen vorbei. Es war Paris, es war die Welt; ich war frei; frei zwischen Himmel und Erde und den grauen Wänden des Horizonts. Im Faubourg Saint-Antoine schnurrten die Maschinen: immer, immer dasselbe; im Hospital kamen Kinder zur Welt, und alte Leute starben; auf dem Grunde des schneeschweren Himmels stand eine rote Sonne: irgendwo war ein junger Mann, der diese Sonne anschaute, und etwas in seinem Herzen brach auf. Ich preßte die Hände gegen mein Herz, und ich fühlte es schlagen: immer, immer das gleiche; das Meer schlug an den Strand: immer der gleiche Schlag. Es fing wieder an, es ging weiter, und immer, immer würde es wieder von neuem anfangen und weitergehen.
    Seit langem war es dunkel geworden, als ich ein leises Klopfen an meiner Tür vernahm. Es war Laure; sie hielt eine Lampe in der Hand: «Soll ich Ihnen Ihr Nachtessen hierher bringen?»
    «Machen Sie sich keine Umstände; ich habe gar keinen Hunger.»
    Sie setzte die Lampe hin und trat zu mir ans Bett: «Vielleicht hatten Sie gar keine Lust, das Gefängnis zu verlassen», sagte sie.
    Ihre Stimme war verschleiert, fast ein wenig rauh. Ich richtete mich auf dem Ellbogen auf. Eine Frau: ein Herz, das klopft unter warmem Fleisch, frische Zähne, Augen, die nach Leben verlangen, und der Duft ihrer Tränen; wie die Jahreszeiten, wie die Stunden, wie die Farben waren auch sie immer die gleichen geblieben.
    «Wir hatten es gut gemeint», sagte sie.
    «Sie haben auch recht getan   …»
    «Das kann man niemals wissen.»
    Sie sah

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