Alle Menschen sind sterblich
deswegen. Ich aber bin der Meinung, daß ich nirgends so gute Arbeit machen kann wie hier.»
Er durchstreifte den großen, leeren Schlafsaal mit dem Blick; da drüben, an dem wohlbesetzten Tisch, lachten sie laut und sangen Trinklieder.
«Ich habe gehört, in Sainte-Pélagie soll man viel Freiheit haben?»
«Das stimmt. Die Bürgersöhne haben sogar Einzelzimmer; dieser Schlafsaal hier ist nur für die Arbeiter da …»
«Also! Denken Sie doch nur einmal nach!» rief er aus. «Das ist doch eine wundervolle Gelegenheit, Kontakt zu nehmen, über Dinge zu reden! Die Union muß verwirklicht sein, ehe ich hier herauskomme.»
«Und zehn oder zwanzig Jahre Haft erschrecken Sie nicht?»
Er lachte kurz auf, sein Gesicht erhellte sich nicht dabei: «Das ist eine andere Frage.»
In der Ebene sah man, wie die Genueser sich vor ihren roten Zelten bewegten; die staubige Straße lag verlassen da. Ich wendete die Augen ab; es war nicht an mir, Fragen zu stellen. Ich hielt die Tore von Carmona weiter fest geschlossen … Ich war dieser Mann gewesen, und gleichwohl verstand ich ihn nicht mehr.
«Warum sind Sie so sicher, daß man die Sache, der man dient, höher anschlagen soll als sein eigenes Geschick?»
Er dachte ein Weilchen nach.
«Ich kann eines vom andern nicht trennen.»
«Ja», sagte ich.
Ich hielt die Tore geschlossen. «Carmona», sagte ich, «wird Florenz das Wasser reichen.» Eine andere Zukunft hatte ich damals nicht.
«Ja», wiederholte ich, «ich erinnere mich.»
«Woran erinnern Sie sich?»
«Vor sehr langer Zeit war ich auch einmal so jung wie Sie …»
Etwas wie Neugier huschte durch seine ruhigen Augen: «Und jetzt ist es nicht mehr so?»
Ich lächelte: «Nicht mehr ganz.»
«Und doch sollte sich Ihr Schicksal völlig mit dem der Menschheit decken, da Sie ja doch ebenso lange existieren werden wie sie.»
«Vielleicht noch länger», sagte ich.
Ich zuckte die Achseln. «Sie haben recht», sagte ich. «Das Gefängnis hat mir zugesetzt, das wird sich wieder geben.»
«Sicherlich», sagte er. «Und dann werden Sie sehen, was für gute Arbeit wir machen werden.»
In der republikanischen Partei standen sich zwei Richtungen gegenüber; die einen ließen nicht von den Privilegien des Bürgertums; sie verlangten die Freiheit: sie verlangten sie nicht für sich selbst; sie wollten nur ein paar politische Reformen und lehnten jede Art von sozialer Neuregelung ab, in der sie nichts anderes sehen wollten als einen neuen Zwang. Armand und seine Freunde jedoch standen auf dem Standpunkt, daß die Freiheit nicht das Reservat einer Klasse sein dürfe und daß allein der Sieg des Sozialismus den Arbeitern den Zugang dazu verschaffen würde. Nichts war für den Erfolg der Revolution unzuträglicher als diese Spaltung, und ich wunderte mich nicht, daß Armand so leidenschaftlich nach einer Einigung strebte. Ich bewunderte dabei seine Beharrlichkeit. In wenigen Tagen hatte er das Gefängnis in einen politischen Klub verwandelt; von morgens bis abends und oft noch bis tief in die Nacht hinein spielten sich Diskussionen in den Schlafsälen ab; sie kamen niemals zum Ziel, und nie verlor Armand die Geduld. Mehrmals in der Woche jedoch wurden er und seine Kameraden von Gendarmen ergriffen und zwangsweise durch die Gänge des Gefängnisses geschleppt; manchmal stießen ihre Köpfe hart auf den Steinfußboden und die Treppenstufen. Lächelnd kam er vom Verhör zurück: «Wir haben nicht gesprochen.» Eines Abends, als er wieder in sein Zimmer trat, wo ich auf ihn wartete, sah ich wieder das gleiche Gesicht vor mir wie vor dem Gebäude des
‹National›
. Er setzte sich schweigend hin, und erst nach einer Weile sagte er: «Die in Lyon haben gesprochen.»
«Ist das sehr ernst?» fragte ich.
«Sie haben die Wirkung unseres Schweigens völlig zunichtegemacht.» Er legte den Kopf in die Hände. Als er wieder aufblickte, waren seine Züge fest, doch seine Stimme bebte. «Wir dürfen uns nichts vormachen. Dieser Prozeß wird sich lange hinausziehen, und er wird nicht die Wirkung haben, die wir davon erhofften.»
«Sie erinnern sich, was ich Ihnen vorgeschlagen habe?»
«Ja.» Er stand auf und ging nervös auf und ab. «Ich möchte nicht allein gehen.»
«Ihr könnt nicht alle ausbrechen …»
«Warum nicht?»
Es waren noch nicht drei Tage vergangen, als Armand auch schon einen Weg gefunden hatte, Sainte-Pélagie mit seinen Kameraden zu verlassen. Gegenüber der Tür, die auf den Hof führte, tat sich ein
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