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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Gedanken.
    Hinter mir knarrte die Tür; eine Hand rührte meineSchulter an, und von sehr weit her drangen Worte zu mir; ich dachte: Das mußte einmal so kommen, und der Palmenschatten verschwand. Nach fünfzig Jahren, nach einem Tag, einer Stunde, war es immer wieder da. «Der Wagen steht vor der Tür, Monsieur.» Ich mußte die Augen öffnen; mehrere Männer standen vor mir und sagten mir, ich sei frei.
    Ich folgte ihnen durch die Gänge hindurch, und ich befolgte alles, was sie von mir verlangten; ich unterschrieb Papiere, ich nahm ein Paket, das sie mir gebieterisch in die Hände steckten. Dann führten sie mich zu einer Tür, die sich hinter mir schloß. Es regnete leicht. Es war gerade Ebbe. Man sah nur grauen Sand, so weit das Auge reichte, rings um die Insel her. Ich war frei.
    Ich stellte einen Fuß vor, dann den andern. Um wohin zu gehen? Auf der Prärie gaben die Binsen mit einem glucksenden Laut die Wassertropfen von sich, und Schritt für Schritt ging ich dem Horizont zu, der immer ferner rückte. Die Augen auf den Horizont geheftet, stellte ich einen Fuß auf den Deich; und da sah ich ihn, ein paar Meter von mir entfernt, wie er lachend dastand, mit ausgestreckten Händen. Es war kein junger Mann mehr. Er schien älter als ich mit seinen breiten Schultern und seinem dichten Bart.
    «Ich komme Sie abholen», sagte er.
    Seine harten, warmen Hände drückten die meinigen. Auf der anderen Seite des Flusses war ein Feuer zu sehen, und ein Feuer schimmerte in Mariannes Augen. Armand hatte meinen Arm genommen, er sprach, und seine Stimme war wie ein glühender Hauch. Ich folgte ihm; ich setzte einen Fuß vor den andern und dachte: Es fängt also wieder an? Es geht also wieder weiter? Und wird immer wieder beginnen, Tag für Tag, alle Tage?
    Ich ging mit ihm eine Straße entlang; immer gab es Straßen, Straßen, die an kein Ende führten. Dann stiegen wir in die Postkutsche ein.
     
    Armand sprach immer weiter. Zehn Jahre waren vergangen: ein großes Stück seines Lebens; er erzählte mir seine Geschichte, und ich hörte zu: die Worte hatten noch einen Sinn; immer den gleichen Sinn, immer die gleichen Worte. Die Pferde galoppierten; draußen schneite es: der Winter, die vier Jahreszeiten, und die sieben Farben; die eingeschlossene Luft roch wie altes Leder. Selbst die Gerüche kannte ich. Leute stiegen aus dem Wagen aus, andere stiegen ein; lange hatte ich nicht so viele Gesichter gesehen: so viele Nasen, so viele Münder, so viele Augenpaare. Armand sprach. Er sprach von England, der Amnestie, der Rückkehr nach Frankreich, seinen Bemühungen, meine Begnadigung zu erlangen, und schließlich von seiner Freude, als sie bewilligt worden war.
    «Ich habe lange Zeit gehofft, daß Sie entweichen würden», sagte er. «Das wäre doch für Sie nicht schwierig gewesen.»
    «Ich habe es nicht versucht», sagte ich.
    «Ach!»
    Er sah mich an und wendete dann die Augen zur Seite. Er begann wieder zu sprechen, ohne mir Fragen zu stellen. Er lebte in Paris in einer kleinen Wohnung mit Spinelli und einer Frau, die er in England kennengelernt hatte; sie rechneten darauf, daß ich zu ihnen zöge.
    Ich stimmte zu und fragte ihn: «Ist sie Ihre Frau?»
    «Nein; nur eine Freundin», gab er kurz zur Antwort.
    Als wir in Paris ankamen, war eine ganze Nacht vergangen; es war Morgen, die Straßen waren mit Schnee bedeckt; eine alte Dekoration; Marianne hatte den Schnee geliebt. Sie kam mir gleichzeitig näher und endgültiger verloren vor als in meinem Verlies; es war ein Platz für sie im Bild dieses Wintermorgens, und dieser Platz war leer.
    Wir stiegen eine Treppe hinauf; die Dinge hatten sich nicht verändert in diesen letzten zehn Jahren, in fünf Jahrhunderten;sie hatten immer ein Dach überm Kopf, und um sich herum Tische, Betten, Sitzgelegenheiten, olivgrün oder mandelgrün, Tapeten an den Wänden; in diesen Wänden lebten sie und warteten auf den Tod, und sie träumten darin ihre Menschenträume. Im Stall hatten die Kühe ihren warmen grünen Bauch, die großen, blondbewimperten Augen, worin sich ein Traum von gutem Heu und saftigen Wiesen spiegelte in alle Ewigkeit.
    «Fosca!»
    Spinelli drückte meine Hände und lachte mir ins Gesicht; er war noch immer der gleiche, vielleicht waren seine Züge ein klein wenig schärfer geworden. Im übrigen schien mir nach dieser Nacht auch Armands Gesicht ganz dasselbe zu sein, das ich immer an ihm gekannt hatte. Es war mir, als hätte ich sie erst am Tage vorher verlassen.
    «Das ist

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